Dr. theol. Paul Schulz
Brauchen wir eine atheistische Kirche?
Themen I-VII

Thema VII

Von daher gilt mir heute noch mehr als je eine

Atheistische Kirche. Kirche der Vernunft                                           

als denkerisches Leitmodell. Als Leitmodell gerade auch für eine nach innen wirkenden Gestaltung einer säkularen Konsensgemeinschaft. Als solches Leitbild

  • müsste sie, konform mit unserer säkular-demokratischen Verfassung, ein basisdemokratischer  Freiheits-Raum sein in völliger Trennung von Staat und Kirche, offen für alle Gesellschaftsgruppen und Meinungen;
  • müsste sie sich erkenntnismäßig dem säkularen Weltbild verpflichtet  wissen und ein  Denk- und Bildungs-Raum sein, der mit seinen Aktivitäten allen Lebensaltern zur Aufklärung des Einzelnen  und zur Säkularisierung der Gesellschaft dient;
  •  müsste sie einen humanistischen  Werte-, Rechts- und Gesetzes-Raum
    garantieren, der sich ausschließlich aus der demokratischen Verfassung ableitet, konform mit den

    Menschenrechtserklärungen der UNO von 1949
    und der EU-Charta von 2007. Ein humanistischer Rechtsraum, der wie
    ein bissiger Terrier Inhumanität und Unrecht angreift, speziell auch Betrug
    der Wirtschaft an der sozial schwachen Gesellschaft;                                                                                                                               
  • müsste sie einen  religiös-theologisch-säkularen Transformations-Raum  
    darstellen,  in dem für alle, in welchem Selbstfindungsprozess auch immer,  

    mit größtmöglicher Orientierungskompetenz Wegweisung gegeben werden
    kann, ohne Bevormundungsautorität und dogmatische Denksperren; 
  • müsste sie als ein hedonistischer  Lifestyle-Raum aufgeschlossen sein, den Menschen in allen Generationen die Schwere des alltäglichen Lebens  zu nehmen und die Fülle der positiven Lebensmöglichkeiten zu vermitteln;
  • müsste sie einen  offenen Kultur-Raum so herrichten, dass der Homo ludens  mit seiner menschlichen Gestaltungsfähigkeit in allen Kunstformen freies Spiel hat, gerade auch um seine emotionale Intelligenz zu fördern;
  • müsste sie einen  Fest-Raum schaffen, in dem das Außergewöhnliche und das   Besondere des alltägliche Lebens persönlich oder öffentlich bewusst gemacht  werden kann – mit Willkommensfesten für Neugeborene,  Freundschafts- und Ehefesten, Ehrungen und Jubiläen, Ruhetagen und Sabbathjahren. Natürlich auch weltliche Trauerfeiern für die Verstorbenen und ihre Angehörigen.
  • müsste sie, konform mit unserer säkular-demokratischen Verfassung, ein basisdemokratischer  Freiheits-Raum sein in völliger Trennung von Staat und Kirche, offen für alle Gesellschaftsgruppen und Meinungen;
  • müsste sie sich erkenntnismäßig dem säkularen Weltbild verpflichtet  wissen und ein  Denk- und Bildungs-Raum sein, der mit seinen Aktivitäten allen Lebensaltern zur Aufklärung des Einzelnen  und zur Säkularisierung der Gesellschaft dient;
  • müsste sie einen humanistischen  Werte-, Rechts- und Gesetzes-Raum
    garantieren, der sich ausschließlich aus der demokratischen Verfassung ableitet, konform mit den

    Menschenrechtserklärungen der UNO von 1949
    und der EU-Charta von 2007. Ein humanistischer Rechtsraum, der wie
    ein bissiger Terrier Inhumanität und Unrecht angreift, speziell auch Betrug
    der Wirtschaft an der sozial schwachen Gesellschaft;                                                                                                                               
  • müsste sie einen  religiös-theologisch-säkularen Transformations-Raum  
    darstellen,  in dem für alle, in welchem Selbstfindungsprozess auch immer,  

    mit größtmöglicher Orientierungskompetenz Wegweisung gegeben werden
    kann, ohne Bevormundungsautorität und dogmatische Denksperren; 
  • müsste sie als ein hedonistischer  Lifestyle-Raum aufgeschlossen sein, den Menschen in allen Generationen die Schwere des alltäglichen Lebens  zu nehmen und die Fülle der positiven Lebensmöglichkeiten zu vermitteln;
  • müsste sie einen  offenen Kultur-Raum so herrichten, dass der Homo ludens  mit seiner menschlichen Gestaltungsfähigkeit in allen Kunstformen freies Spiel hat, gerade auch um seine emotionale Intelligenz zu fördern;
  • müsste sie einen  Fest-Raum schaffen, in dem das Außergewöhnliche und das   Besondere des alltägliche Lebens persönlich oder öffentlich bewusst gemacht  werden kann – mit Willkommensfesten für Neugeborene,  Freundschafts- und Ehefesten, Ehrungen und Jubiläen, Ruhetagen und Sabbathjahren. Natürlich auch weltliche Trauerfeiern für die Verstorbenen und ihre Angehörigen.

 

Eine derartige atheistische Kirche wäre

  • ideen- und gesellschaftspolitisch  ein dramatischer Vorstoß in die Domänen der Religion und Religionen mit dem Anspruch der aufklärenden Vernunft
    die säkulare Deutungshoheit des menschlichen Seins gegen deren religiöse Positionen durchzusetzen;
  • ein Verständigungs- und Handlungsraum für alle bewussten Menschen, die das verlogene Reden unseres Staates von der christlichen Wertegemeinschaft speziell in Politik (NSA), Wirtschaft (Deutsche Bank) und Soziales (Benachteiligung von Alleinerziehenden) nicht mehr ertragen, sondern aufdecken und angreifen wollen;
  • eine Basis für höchst innovative geistige Aufklärungsarbeit mit dem Ziel eines wachsenden Magnus Konsensus der Nichtreligiösen;
  • ein starker Neuansatz zu einer echten Communio Humana  mit breitgefächerten sozialen Bezügen;
  • insgesamt ein Antrieb zum  geistigen und sozialen Wandel,  den ich auch heute hier inmitten der theologisch-atheistischen Tagung der Evangelischen Akademie Hofgeismar in Gang setzen möchte.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit. 

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Thema VI

8]        Atheistische Kirche                                                                                    
            ist nicht der Ort der Suche des Menschen,       
            nach einem fremden jenseitigen Gott,
            sondern der Ich-Findung des Menschen
            und seiner eigenen Lebensmitte und Identität

Pierre Bayle, einer der ersten großen französischen Aufklärer, schrieb 1697 in seinem Standardwerk  DICTIONNAIRE HISTORIQUE ET CRITIQUE seinen berühmten Satz:  
Ich könnte mir eine Gesellschaft der Atheisten vorstellen. 

Mit dieser These erschütterte Pierre Bayle das damalige christliche Abendland. 
Ein entsetzter Aufschrei schlug ihm zurück: Atheisten! Diesem Aufschrei folgte die Aufklärung mit dem Zusammenbruch der geistigen Bevormundung durch die Kirchen und damit die Freisetzung des autonomen Menschen. Werden wir heute, dreihundert Jahre später, irgendwo diesem Anspruch einer Gesellschaft der Atheisten gerecht – als Staat, als Bürgergesellschaft oder als Gemeinde, Assembly, Kirche?

 

Atheismus-Kritik

Hier setzt meine Kritik ein an der Atheismus-Bewegung der letzten zehn Jahre,
gleichsam von dem Zeitpunkt an, als Michael Schmidt-Salomon und ich
gemeinsam in der Talkshow MENSCHEN BEI MAISCHBERGER  aufgetreten sind und der Atheismus zum ersten Mal voll auf dem Bildschirm präsent war. Seitdem ist viel passiert, keineswegs nur Rühmliches. 

Die Neuatheisten[1]  haben mit ihrer dauerhaften Radikalkritik an Religion und Theologie viel Schaden angerichtet. Sie haben sich gleichsam auf die andere Seite des Ufers gestellt und immer wieder laut  >rübergeschrien<: Ihr da drüben seid alle doof. Nur wir sind schlau. Dawkins und Kumpanen.

Kritik, auch harte Kritik, muss sein, ganz ohne Frage. Aber hochmütige Kritik ohne eigenes qualifiziertes Wissen gerade auch um die analytisch höchst kritische moderne Religions- und Theologiewissenschaft – etwa Bultmanns epochale synoptische Textkritik und sein Entmythologisierungskonzept –  disqualifiziert die Kritiker selber.

Der Neuatheismus hat der Gesellschaft seine Totalkritik an Religion und Theologie völlig platt entgegengeschleudert. Doch wer in dieser Form versucht,
vielen  Menschen  den Schutzraum des persönlichen Gottes zu zerstören, selbst wenn dieser nur eingebildet ist, der muss diesen Menschen schon aus reiner Humanität zugleich etwas substantiell Gleichwertiges anbieten, was ihnen auf Zukunft neu Sinn und Lebensgewissheit vermitteln kann.

Von daher muss sich der Neuatheismus fragen lassen, was er denn der Gesellschaft in den letzten zehn Jahren an konstruktiv positivem Konzept angeboten hat? Wo ist etwas in Erscheinung getreten, woran andersdenkende Menschen gemerkt haben: Aha, das ist die Kraft des Atheismus?  So könnten wir uns die Gesellschaft der Atheisten konstruktiv vorstellen.

Keine Frage, es gibt einige Literatur, gute Bücher zum Atheismus. Es gibt Gruppen des säkularen Humanismus, die im sozialen Bereich hochwertige Arbeit leisten, zum Beispiel atheistisch geführte Kindergärten, ähnlich wie kirchenreligiös gut geführte Kindergärten und Kitas. Natürlich gibt es auch Veranstaltungen, in denen die Gruppen fleißig tagen.  

Nur fällt das alles kaum ins Gewicht, überschreitet fast nirgends die Ingroup-Kreise. Die Spitzen dort sitzen bequem in ihren Pfründen und treiben Nabelbeschau, darauf bedacht, ihre Parochien als ihr Hoheitsgebiet zu schützen.
Es herrscht allerorts, nicht nur beim Humanistischen Verband Deutschlands, Selbstgefälligkeit über den erreichten status quo in der deutschen Gesellschaft.

Wen eigentlich kann der Staat – so Hamburgs Altbürgermeister Hennig Voscherau in seinem brillanten Vortrag auf dem DEUTSCHEN HUMANISTENTAG  2013 in Hamburg – als offizielle Repräsentanten des Atheismus in Deutschland ansprechen? Wer ist, wo ist die Gesellschaft der Atheisten?  Warum hören wir nichts von ihnen? Warum mischen sie sich nicht ein. Sollen wir sie – fragt Voscherau als Politiker ironisch – an den Verhandlungstisch herantragen? 

Mit Atheistische Kirche
ziele ich genau auf diese herausfordernde Frage und antworte: 

Ja, Wir brauchen dringend eine Atheistische Kirche!

 

Ja, wir brauchen dringend eine nach außen gerichtete Repräsentanz des Atheismus gegenüber Staat und Gesellschaft und gegenüber der wachsenden Macht der institutionalisierten Religionen in Deutschland. Für eine solche kämpferische Repräsentanz des Atheismus wäre eine Atheistische Kirche ein optimales Modell: 

  • Für eine Einheit in Vielfalt, in der alle Gruppen mit ihrem Wissen, Fähigkeiten
    und berechtigten Interessen in einem ganzheitlichen Anspruch vertreten sind. 
  • Für einen zu schaffenden Magnus Konsensus des Denkens und des miteinander
    Lebens ohne Gott in der modernen Gesellschaft.
  • Für eine gemeinsame Front mit einer Corporate Identity des erklärten Widerstands gegen privilegierte Stellungen der institutionalisierten Religion und Religionen innerhalb des säkularen Staates und seinen Institutionen. 
  • Für eine strukturierte Gesamtvertretung zur Durchsetzung säkularer
    gesellschaftspolitischer Forderungen.
  • Für eine Repräsentanz der säkulare Kirche immer mittendrin da, wo          
    Christentum sich in Alleinstellung Kirche nennt und Islam sich Gottesstaat
    – als provokative geistige Herausforderung um die gottfreie Deutungshoheit
    des Menschseins in aufgeklärter Freiheit auf Zukunft. 

    

9]        Atheistische Kirche, Kirche der Vernunft                                           

Zu meinen Predigthörern und auch zu den Besuchern meiner Kritischen Gottesdienste damals in St. Jacobi gehörte auch Professor Knoop von der soziologischen Fakultät der Universität Hamburg. Er war von dem neuen Kirchenansatz in St. Jacobi fasziniert. Er bot mir an der soziologischen Fakultät der Uni einen Lehrauftrag an mit dem Thema Kirche im sozialen Wandel, bzw. Kirche als sozialer Wandel, den ich mehrere Semester wahrgenommen und  bei ihm an einer Habilitationsschrift über dieses Thema gearbeitet habe.

Wäre ich 40 oder auch 50, würde ich auch heute noch an das Modell Atheistische Kirche und sozialer Wandel so aktiv glauben und daran arbeiten, wie ich damals als Pastor von St. Jacobi an meine Aufgabe zur radikalen Veränderung der Amtskirche in der säkularen Gesellschaft geglaubt habe – als mein absolutes Ziel und als Wille.

Heute nicht mehr als kirchlicher Christ, aber immer noch in Nachfolge des historischen Jesus von Nazareth, der übrigens nicht in der Kirche war, schon gar nicht als hochbezahlter Funktionär,  sondern die institutionalisierte Religion seiner Zeit, die übermächtige pharisäische Religionsbehörde, mit seiner noch heute gültigen weltlichen Botschaft der menschlichen Barmherzigkeit scharf angegriffen hat. Dafür ist er – wie sein Mitmensch Sokrates – durch die Gewalt der institutionalisierten Religion gestorben.


[1] Ich selber sehe mich nicht als Neuatheist sondern als klassischer Atheist im Sinne der großen Atheismusväter: Feuerbach, Darwin, Marx, Freud, Häckel, Sartre, Hawkings. Im Rückgriff auch auf die antiken Erst-Denker: Demokrit, Sokrates, Aristoteles, Epikur und Lukrez. 

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Thema V

6]             Nur der Atheist wird ein autonomer Mensch,                                     
                  indem er sich dem christlich-kirchlich
                  befohlenen Gott-Glauben völlig entzieht          

Gerade auch der säkulare Glaube des Menschen an sich selbst auf dem Weg von einem religiösen zu einem autonomen Menschen ohne Gott setzt ungeheure Willenskräfte frei zu Veränderung und Neuanfang, zu Trennung und Abschied mit Umbrüchen, Verlusten, persönlichen Opfern. Ein langwieriger individueller Bewusstwerdungsprozess zu einem selbstbestimmten Leben, in dem große Menschen – Sokrates, Jesus und viele andere – ihr Leben verloren haben.

Dieser Weg zum autonomen Ich, speziell die Entwicklung zum Atheisten
lässt sich als persönlicher Bewusstwerdungsprozess in sieben Phasen darstellen:

Erste Phase: Von alters her glaubt der Mensch an Gott als einem jenseitigen Gott.
Wer so glaubt, der mag dabei stehen bleiben. Es ist sein Leben. Es ist sein gutes Recht.
Niemand darf ihn drängen, gar zwingen. Er ist so. 

Zweite Phase: Jeder aber, der nicht mehr fest an einen jenseitigen Gott glaubt,    
befindet sich auf dem Weg in ein Leben ohne einen  letztgültigen Gott. Der erste Zweifel
schon ist der erste Schritt zur Trennung vom absoluten Gott. Ihm folgen noch viele Schritte.

Dritte Phase: Mit jedem Schritt mehr verschärft sich der Zweifel, der das Nicht- mehr-glauben-Können vorantreibt in Irritation und Schuldgefühle, in Verlust- und Daseinsängste. Dabei scheitert immer wieder der Versuch, in den vorherigen Stand eines festen Gott-Glaubens zurückzukehren. Viele Menschen bleiben in diesem Schwebezustand hängen, uneins mit sich selber.

Vierte Phase: Nahezu parallel zum Verlust des absoluten Gottes beginnt eine Suche nach Ersatzlösungen. Der Mensch versucht, die leere Stelle des absoluten jenseitigen Gottes neu zu besetzen mit Werten, die sich ihm aus seinen persönlichen Bedürfnissen heraus ergeben. Der Mensch gibt sich dabei aus sich heraus subjektiv kreativ, wissend selbstbewusst : Für mich ist Gott …  Ich kann mir Gott vorstellen als … Ich kann nur an einen Gott glauben, der … Der Mensch setzt so seinen alten absoluten Gott mit dem neuen Anderen unter Druck.

Fünfte Phase: Der Mensch kehrt in diesem Stadium seiner persönlichen  Projektion zurück in die Pluralität des Religiösen. Die Vielfalt der Religiosität lässt ihn subjektive Freiheit empfinden. Dabei wird der absolute jenseitige Gott endgültig abgelöst von einem eigenen Gott aus der Bedürfnisstruktur des persönlichen Ich. Der eigene Gott ist in diesem Stadium die große subjektive Imagination des zeitgenössischen Menschen, die ihn sich lange wohlfühlen lässt.

Sechste Phase:  In ihr entwickelt sich zunehmend die Einsicht, dass der eigene Gott gar kein eigenständig handelnder Gott sein kann, weil er ja subjektiv gemacht ist, eben persönliches Produkt des Selbst. Zunehmend begreift das Ich seine eigene Projektion als Selbsttäuschung. Je mehr sich das Ich diese Erkenntnis eingesteht,  desto stärker relativiert sich ihm sein eigener Gott. Der Mensch wird offen für den letzten Schritt. 

Siebte Phase:   Zuletzt der Schritt in die atheistische Autonomie. Der Mensch bekennt sich zu einem Denken und Leben ganz ohne Gott. Durch die Loslösung auch von seinem subjektiven Gott, entwickelt er sich zu einem sich selbst bestimmenden und verantwortenden Individuum. Er wird ein autonomer Mensch.

Ja, wir brauchen dringend eine offene Gemeinschaft, eine >Atheistische Kirche<,

  • in der dieser Transformationsprozess in allen seinen Stufen als  Bewusstseins-änderungen und sozialer Wandel kompetent gestaltet werden kann;
  • in dem jeder Mensch auch im Status mythischer Religion und dogmatischer Theologie oder des eigenen Gottes respektiert   und als gleichberechtigter Partner anerkannt ist, gerade auch in harter, aber fairer Streitkultur; 
  •  in der trotzdem das oberste Ziel der autonome Mensch in seiner geistigen
    Freiheit ist und dazu durch Aufklärung überzeugt werden soll;            
  • in der darüber hinaus offene Menschlichkeit und Solidarität nicht nur ein
    humanistischer Lehrsatz ist, sondern praktiziertes Sozialbewusstsein;
  • in der zugleich eine vielseitige und vielschichtige Lebensfreude herrscht ohne Bevormundungsautorität, eine hedonistischen Freiheit, die allen gegönnt ist.

 

7]                    Kritische Gottesdienste 1971 – 1973                                              
                        in der Hauptkirche St. Jacobi in Hamburg

Als ich 1970 an der Hauptkirche St. Jacobi Pastor wurde, war die Stadt Hamburg
voll im Umbruch der 68er-Bewegung in die RAF-Szene. Ich hatte den erklärten Auftrag, die Hauptkirche St. Jacobi für die Hamburger Öffentlichkeit mit neuen Aktivitäten zu öffnen. Neben meinen Predigten entwarf ich damals einige völlig neuartige kirchliche Aktivitäten: Gleich zu Anfang eine neue Gottesdienstform, die sogenannten Kritischen Gottesdienste:

Die Kritischen Gottesdienste[1]

–   fanden einmal im Monat statt, Mittwochabend ab 19.30 Uhr.  Zeit spielte kaum eine Rolle. Meistens dauerten sie bis 22 Uhr, oft bis 23 Uhr.
–   Immer spielte eine der damals legendären Hamburger Jazzbands nicht nur zur Einleitung, sondern auch mittendrin und noch einmal voll zum Schluss. Eine phantastische Atmosphäre in dem alten, gotisch-hohen Kirchengewölbe.
–   Jeder Kritische Gottesdienst stand unter einem aktuellen Thema, das vielerorts angekündigt war. Themen waren u.a.:  Drogenkonsum. Heimerziehung. Ehebruch. Humaner Strafvollzug. Paragraph § 218/Abtreibung. Antiautoritäre Erziehung. Lehrermangel in der Volksschule. Großfamilie.      
–   Statt Predigt gab es eine Podiumsdiskussion mit vier bis fünf Fachleuten, die speziell für das Thema kompetent waren. Jeder Podiumsgast hatte vorweg drei Thesen formuliert, die allen Besuchern schriftlich vorlagen.
–   In der ersten Reihen vor dem Podium saßen Menschen, die persönlich betroffen waren. Sie wurden im Verlauf der Podiumsdiskussion mit einbezogen und kamen reichlich zu Wort.
–   Das Podium diskutierte hart. Wenn die Betroffenen eingriffen, wurde es manchmal sehr laut, gar handgreiflich. Die Musik musste einsetzen, um Ordnung schaffen zu können.
–   Die Gesamtleitung und die der Diskussion hatte ich als Pastor, in legerer Kleidung ohne jeden klerikalen Habitus.
–   Die alte Gottesdienstliturgie war völlig aufgehoben. Sie war reduziert auf einen kurzen Eingangs- und Schlussteil.
–   Der Schlussteil war immer besonders wichtig. Er war mein Solopart als Pastor.
In ihm musste ich in Kürze präzise und prägnant das Ergebnis der Diskussion präsentieren. Wie das gelang, so war die positive Ausstrahlung  des Abends.
–  Zugleich war das der Augenblick der Aufforderung zur Selbstverantwortung der Hörer: Du hast es gehört. Du kannst es. Also tu es. Dieser Aufruf fiel meist ziemlich emotional aus, denn ich war (und bin) leidenschaftlicher Jesuaner, also Anhänger der weltlich-positiven Botschaft des historischen Jesus von Nazareth.
Von Jesus Botschaft kann der Mensch viel mehr, als ihm die Kirche als Sünder immer zugestanden hat. Es gibt nichts Gutes, außer du tust es. Also tu es. 

Mehrere dieser Kritischen Gottesdienste führten nachfolgend zu konkreten Aktionen. Nur zwei Beispiele: 

·  Zum Thema Drogenkonsum gründeten zwei Kritische Gottesdienste einen selbstständigen Therapieverein, der in HH-Geesthacht Hamburgs erste Therapeutische Wohngemeinschaft für Drogenabhängige mit 14 Probanden und 10 Therapeuten eröffnete – voll vom Hamburger Staat finanziert.   

·  Zum Thema § 218 mit selbstindizierten Frauen im Podium, die abgetrieben hatten, verfassten zwei Kritische Gottesdienste gegen das Abtreibungsverbot des Hamburger Bischofs mit Hunderten namentlichen Unterschriften mit Adressen eine Resolution an den Bundestag für die Straffreiheit bei Abtreibung.

Vox populi contra sich auf Gott berufende Amtskirche. Nahezu jeder Kritische Gottesdienst war ein derartiger Kampf um innerkirchliche Veränderung.
Schon der erste Kritische Gottesdienst hatte weit über 700 Teilnehmer. Die Zahl stieg schnell auf über Tausend. Die soziale Grobschichtung der Besucher war 70% unter 40 Jahren. Immer berichtete die Presse ausführlich. 

15 derartige Kritische Gottesdienste haben stattgefunden, bis die Kirche den geplanten sechszehnten verbot. Bis dahin hatte es einen dramatischen Kampf um den Begriff Kritischer Gottesdienst gegeben. Die Kirchenleitung wollte ihn mir von Anfang an untersagen.  Für mich war er Programm, um den ich bis zum Verbot gekämpft habe: 

Gottesdienst war für mich als Pastor primär immer auch Menschendienst, ganz konkrete  Hilfeleistung  für die Gemeinschaft von Menschen und für jeden Einzelnen in der Gemeinschaft. Kritischer Gottesdienst war dabei eine gezielte  Auflösung der liturgisch-statischen Anbetungsform zugunsten lebensnaher Kommunikation miteinander mit gemeinsamer Aufarbeitung eines aktuellen  Problems und Einstieg in seine Klärung und Lösung. Damals 1971 die erste Form einer Talkshow. Kirchen-Modell:  Communio humana[2], öffentlich, für alle.

Aus diesen Kritischen Gottesdiensten entstand während des kirchlichen  Lehrzuchtverfahrens gegen mich und mit meiner Verurteilung  als  Ketzer die Bewegung Communio Humana e.V.[3], Nachfolgegruppe meiner St. Jacobi-Gemeinde, die sich zur Fortsetzung meiner Gemeindearbeit bekannte.

Communio humana nahm vor allem die Kritischen Gottesdienste wieder auf
und setzte sie in leicht veränderter Form fort:  Am 1. Sonntag im Monat  als Sonntagsfest in der Hamburger Markhalle, einem großen alternativen Kulturzentrum, das gerade zuvor  500 Meter von St. Jacobi entfernt eröffnet worden war. Der dreiseitige Tribünensaal fasste etwa 1000 Plätze und war fast immer voll besetzt. Im Mittelpunkt standen jetzt Weltliche Predigten von Dr. Paul Schulz, so der Titel, mit literarischen Texten, Musik natürlich und viel Bewegungsfreiheit der Gäste untereinander für offene Diskussionen,

1995 habe ich diesen Ansatz in neuer Form aufgenommen mit der Gründung
der senioren-akademie alstertal in Volksdorf, im Norden Hamburgs. Dieses Jahr besteht diese Akademie 20 Jahre als freie, völlig  unabhängige Institution:  Über 1300 Seminarnachmittage zu Philosophie und Theologie, Kunst und Literatur, Geschichte und aktuelle Politik; 60 Kulturereignis-Reisen durch ganz Europa,
60 Wochenendseminare – für viele eine lebensbestimmende Communio humana.

Im Rahmen dieser senioren-akademie habe ich weit über tausend weltliche Trauerfeiern mit Trauerreden gehalten, vorweg fast immer zwei Stunden Hausbesuch als Mitmensch bei den Trauernden – fast immer ohne das Wort Gott und ohne jedes christliche Ritual.  

 


[1] Belegt in: Haug v. Kuenheim (Hg), DER FALL PAUL SCHULZ. DOKUMENTATION DES GLAUBENSPROZESSES GEGEN DEN HAMBURGER PASTOR, 1979, Verlag Politik und Wissenschaft, S. xx ff. 
[2] Noch heute liegen alle Kritischen Gottesdienste als Tonbanddokumentationen vor.
[3] Belegt in: Hauk von Kuenheim (Hg),  op.cit., Seite

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Thema IV 

5]      Glaube und Glauben sind generell menschliche Kategorien                           

Glaube und Glauben sind nicht vom Christentum erfunden worden.
Sie sind kein geistiges Eigentum der Staats- oder Amtskirche. 

Nicht weil es christlich ist – glauben die Menschen,
sondern weil es menschlich ist – glauben auch die Christen. 

Ich wiederhole diesen Satz, damit endlich diese blödsinnige Debatte aufhört,
als hätten die Christen den Glauben erfunden und allein in ihrem Besitz: 

·   Nicht weil es christlich ist – glauben die Menschen,
     sondern weil es menschlich ist – glauben auch die Christen.
     Also glauben natürlich auch die Atheisten und alle anderen Menschen. 

Die christlichen Staats- und Amtskirchen haben nicht nur institutionell auf den Menschen Macht ausgeübt, sie haben auch die allgemein wichtigen menschlichen Denkbegriffe mit ihren Definitionen in Besitz genommen und sie somit dem Andersdenkenden semantisch entwunden. Sie haben damit die Vorstellungen Andersdenkender außer Kraft gesetzt, sie im wahrsten Sinne des Wortes in ihrem eigenen Denken sprachlos gemacht.

Das hat die Kirche nicht nur mit dem Begriff Glauben gemacht, sondern auch mit vielen anderen wichtigen Begriffen, z.B. mit dem Begriff  
Spiritualität.

Mit diesem Begriff suggeriert die Kirche den Eindruck, dass ein tief empfundenes  Gefühl nur im frommen Ritual der christlichen Erfahrungswelt möglich ist.

Wie oft ist mir schon gesagt worden, ich hätte als Atheist ja gar keine Gefühle, schon gar keinen Sinn für Spiritualität.

Hier gilt, was ich eben schon für den Glauben gesagt habe. Auch Spiritualität, das Gefühl des Ergriffenseins vom Erhabenen, ist ein rein menschliches Gefühl – und deshalb haben es auch die Christen. Nur viel begrenzter auf dem ganz schmalen Kanal ihrer Frömmigkeit. Der frei denkende Mensch erfährt dagegen Erhabenheit allerorts: In der Natur, in (aller) Musik, in tiefen Gedanken, in inniger Liebe,

in sexueller Erregung und Hingabe, in Menschlichkeit, in tiefem Erschrecken, vielleicht sogar im letzten Schritt auf den Tod zu.

Etwas anders, aber ähnlich ist es auch mit dem Begriff
Kirche, altgriechisch ekklesia:

In der Polis Athen zurzeit des Sokrates um -400 war ekklesia die demokratische Volksversammlung, gleichsam die Assemblée nationale, also der Ort des demokratischen Volkes des goldenen Zeitalters des Perikles. Die Christen haben gerade diesen Begriff zum Zentralbegriff ihres theokratischen Gott-Glaubens gemacht und darin alles Demokratisch-Menschliche abgeschafft – bis heute.

Es gilt auf Zukunft, den Begriff Glaube – und auch die anderen Begriffe wie Spiritualität und Kirche – aus dem christlichen Besitzanspruch und damit aus ihrer Bevormundung und Fremdbestimmung zurück zu erobern, um sie dem Menschen neu zur Verfügung zu stellen als hohe humane Qualität und Wegfindung zu sich selbst. Glaube als ureigene Bewusstseinskraft des Individuums, denn 

Glaube und Glauben sind ureigenes Ziel und Wille des Menschen:

·  Ein junger Fußballer hat nur einen einzigen Wunsch, eines Tages bei Bayern- München zu spielen. Er ist gut, hat Talent.
Er schwört sich, alles zu tun,  um sein hohes Ziel zu erreichen. Er ist fest überzeugt, dass er es schaffen wird. Er glaubt an sich. Ohne seinen Glauben an sich, wird er es nie schaffen. Sein Glauben an sich selbst ist ihm Ziel und Wille.

·  Eine junge Frau und ein junger Mann lieben sich, wollen heiraten. Sie versprechen sich fest, gemeinsam durchs Leben zu gehen, obwohl sie wissen, wie schnell Ehen heute zerbrechen. Sie aber glauben an sich,  dass sie es besser können, an ihre Liebe, an ihr gemeinsames Glück. Verlieren sie ihren gemeinsamen Glauben, werden sie scheitern. Doch zunächst ist ihnen ihr Glaube an sich und ihr gemeinsames Glück höchstes Ziel und Wille.

·   Sokrates sagte bei seinem berühmten Gottlosigkeitsprozess: Nicht nur in diesem Augenblick (angesichts seines Todesurteils), sondern mein ganzes Lebens lang halte ich es so, dass ich nichts anderem folge als dem Logos, der sich mir in meinen Nachforschungen als der beste erweist. Der Logos ist ihm philosophisch das höchste Ziel seines Denkens. Seinen Glauben an diesen Logos nicht unter Zwang aufgeben zu müssen, war er mit seinem Willen bereit zu sterben.

Glaube, Glauben also sind
·  Projektion, Imagination, Zielsetzung, begründet in und aus eigenen  
     Bedürfnissen, Wünschen, Ängsten, Hoffnungen auf ein ganz bestimmtes Ziel; 
·  Wollen und damit persönliche Kraftanstrengung, dieses Ziel zu erreichen.
   Je höher das Glaubensziel, desto stärker die erforderliche Willenskraft;
·  alles ursächlich ganz menschlich, völlig ohne Gott.

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Thema III

4]        Die Individualisierung des Gott-Glaubens in der Moderne                                   

Ulrich Beck, ehemals Professor für Soziologie an der Universität München
hat 2008 in seiner äußerst wichtigen Untersuchung DER EIGENE GOTT, das Phänomen der Individualisierung von Religion und Theologie in unserer Zeitepoche analysiert. Seine Feststellungen dazu in drei Punkten: 

Erstens:    Durch die Ich-Philosophie Fichtes einerseits, andererseits durch die Industrialisierung der Gesellschaft, beides zu
Beginn des 19. Jahrhunderts, hat sich das Prinzip der Individualisierung in rasantem Tempo durchgesetzt. Die einzelne Person hat seitdem eine dominante Bedeutung in ihrer Eigenverantwortung und Selbstbestimmung gewonnen.

Zweitens:  Diese Eigenverantwortung und die Selbstbestimmung betreffen den Einzelnen auch in seinem persönlichen Religionsbewusstsein. Jeder Mensch hat das Recht auf Religion. Noch mehr: Jeder Mensch hat das Recht auf seine eigene Religion und damit – auf seinen eigenen Gott.

Drittens:   In dieser Öffnung erleben wir zurzeit die Rückverwandlung des Monotheismus der christlichen Religion in einen Polytheismus des Religiösen unter dem Vorzeichen des eigenen Gottes.

Etwas entspannter formuliert:
·   Der Mensch entdeckt seine religiöse Freiheit als Chance seiner selbst. In einer freien Religion kann er sich in seinem Selbstverständnis nahezu beliebig entfalten. Er kann damit innere und äußere Sperren überspringen. Kann gar die Grenzen des naturwissenschaftlich determinierten Weltbildes sprengen, kann sich seinen Wünschen gemäß persönlich definieren, kann ganz zu sich selbst kommen.

·   Der eigene Gott wird so  – im Sinne von Feuerbach – dem modernen Menschen ganz bewusst zum persönlichen Spiegelbild seines Selbst.

Ulrich Beck hat Feuerbachs anthropologischen Ansatz präzise in die moderne religiöse Individualität weitergeführt- wie ich gerne zugespitzt formuliere: 
Jeder Neureligiöse schaukelt seinen eigenen kleinen Gott auf den Knien. Gerade auch die halbschwangeren Agnostiker. Ihre Neureligiosität ist
– im direkten Sinn des Wortes – genügsame geistige Selbstbefriedigung.

Drei Beispiele für diesen Individualisierungsprozess des Gott-Glaubens:

·   In einer TV-Talkshow antwortet mir eine junge Mönchin in weißer Kutte mit einem verinnerlichten Blick: Für mich ist Gott Liebe. Für mich kann Gott nur  Liebe sein. Ich frage nach: Haben Sie denn einen eigenen Gott, einen Gott, ganz alleine nur für sich? Sie hat mich sofort verstanden, bricht das Thema ab.

·   Margot Käßmann, damals noch Bischöfin, sagte in einem Interview:  Ich könnte mir Gott als Frau vorstellen. Mit dieser Feststellung bricht sie alle  christlichen Dogmen und Bekenntnisse. Sie relativiert, liberalisiert, falsifiziert alle Gott-Vorstellungen der Bibel und der Kirche zugunsten feministischer  Wunschvorstellungen unserer Gesellschaft und offenbar auch ihrer selbst.

·   Die Mutter am Sarg ihres Kindes sagt mir: Ich kann nur an einen Gott glauben, der nicht so ungerecht ist. Meinen Sie, frage ich vorsichtig, dass Gott nur sein darf, wie Sie ihn haben möchten? Einen anderen Gott, sagt sie, brauche ich nicht.

Für mich ist Gott …  
Ich stelle mir Gott vor als … 
Ich kann nur an einen Gott glauben, der … 

sprachliche Kennzeichen eines Bewusstseinswandels des Glaubens von einem absoluten Gott zu einem subjektiven Gott. Immer mehr Menschen sprechen so von ihren Gottesvorstellungen als Ausdruck von Suche nach sich selbst. Ein tiefer, der tiefste soziale Wandel der Religionsszene heute.  Gerade auch die von der Kirchenzeitung  CHRISMON immer wieder vorgelegten Gott-Äußerungen von Prominenten, Politiker, Künstler, Sportler,  beweisen nahezu immer deren neureligiösen eigenen Gott, nicht aber deren Nähe zum biblischen Gott der Kirche.

Von daher noch einmal Ulrich Beck:
In dieser Spannung erleben wir zurzeit
·   die Rückverwandlung des Monotheismus der christlichen  Religion
·   in einen Polytheismus des Religiösen
·   unter dem Vorzeichen des >eigenen Gottes<. 

Die Kirche zeigt sich unfähig, diese Entwicklung aufzufangen oder gar konstruktiv zu gestalten. Sie sitzt mit ihren Dogmen im Ghetto, auch bei der Trauerfeier des verstorbenen Kindes mit einer riesigen Trauergemeinde vor allem junger Menschen. Der Pastor lässt fast trotzig den Choral Lobe den Herrn, den mächtigen König der Ehre singen. Viele klappen das Gesangbuch zu. Als er gemeinsam das Vaterunser beten lässt  … denn dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit in Ewigkeit. Amen., beten nur ein paar Alte mit. Die Jungen kennen offenbar den Text gar nicht mehr. Der mächtige Allgott der Kirche urbi et orbi hat auch hier wieder eine Schlacht verloren.

Mit dieser polytheistischen Befreiung bricht die monotheistische Macht- und Amtskirche zusammen, denn diese Wiederentdeckung des Religiösen führt nicht zurück in die Kirchen, sondern treibt gerade die Neureligiösen endgültig aus der Kirche raus (sehr häufig in den angeblich freien Buddhismus).

Die klerikale Zentralmacht Gott wird so zunehmend stärker außer Kraft gesetzt durch die Individualkraft Ich. Der kirchlich befohlene Dogmen-Glaube an Gott verliert immer mehr an Bedeutung, führt auf Sicht zum Abbruch eines allgemein gültigen christlichen Monotheismus. Die Zukunftszahlen der beiden großen Kirchen in Deutschland sind erschütternd.

 

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Thema II

2]      Im Brennpunkt der Säkularisation:
         Der christlich befohlene Gott-Glaube                              

Seit der Aufklärung Mitte des 18. Jahrhunderts steht speziell der christliche Gott-Glaube im Focus der rationalen Kritik. Voltaire trieb die Überzeugung,  mit seiner Parole Écrasez l´infame[1]  und seinen sarkastischen Vernunftangriffen den kirchlichen Gott-Glauben ein für alle Mal erledigen zu können.

Angegriffen waren von der Vernunftphilosophie der Aufklärung
·   zum einen die anthropo-morphen[2] Gottesvorstellung der Religion mit ihren   
     narrativen[3] Personenbilder;
·  zum anderen die anthropozentrischen[4] Heilsverheißungen der Theologie mit
ihrer Rechtfertigungslehre des sündigen Menschen und der Vorstellung von einem ewigen Leben nach dem Tod. 

Männer wie Julien Offray Lamettrie (Der Mensch als Maschine), Paul d´Holbach (Das Wesen der Natur),  Denis Diderot (Enzyklopädie der Aufklärung) entwarfen zum ersten Mal in der Neuzeit die Längen- und Breitengrade eines säkularen Seins, ein individuelles und ein kollektives Daseinsbewusstsein – ohne Gott.

Die Religions- und Theologiekritik der Aufklärung im 19. Jahrhundert bewirkte
schließlich einen  radikalen Paradigmenwechsel im christlichen Gott-Glauben
mit der neuen atheistischen Anthropologie von Ludwig Feuerbach: 

In seinem DAS WESEN DES CHRISTENTUMS 1841 entwickelte Feuerbach
eine theologisch-anthropologisch stringente Beweiskette für seine These,
dass es Gott als eigenständige Existenz nicht gibt.  Feuerbachs Hammersätze:
·   Redet der Mensch von Gott, redet der Mensch von sich selbst.
     
Alle Theologie ist Anthropologie.
·   Das Wissen von Gott ist nichts anderes
     als das Wissen des Menschen von sich selbst.
     Der Mensch ist dem Menschen Gott – Homo homini deus.
·   Der absolute Geist, der Geist Gottes gar, ist eben nicht
     die vorausgehende Qualität des reinen Seins (nach Hegel),
     
er ist vielmehr die Folge des menschlichen Bewusstseins.
Feuerbachs völliger Neuansatz des Redens von Gott in summa:
·   Gott ist die Projektion des menschlichen Bewusstseins.

3]        Gott im  Denkprozess                                                                                          

Für die Schlussfolgerungen aus diesem Neuansatz des Redens von Gott auf mein heutiges Thema hin erlaube ich mir an dieser Stelle, eigene Erfahrungen als ehemals Pastor an der Hauptkirche St. Jacobi in Hamburg vorzutragen. Die Hauptkirche St. Jacobi ist eine zentrale Kirche in Hamburgs Innenstadt mit Parochialauftrag für ganz Hamburg. 1970 wurde ich dort mit 32 Jahren Pastor. Dieser Tage vor 45 Jahren.

Schon in einer meiner ersten Predigten 1970 habe ich meiner Gemeinde sonntags von der Kanzel erklärt,
·   dass es Gott so, wie die Bibel und die Kirche es sagen, nicht gibt. 

Ich begründete diese Behauptung schon damals[5] mit einem theologischen Dreisatz aufgrund wissenschaftlicher Exegese der beiden unterschiedlichen biblischen Schöpfungstexte in 1. Mose 2 und 1. Mose 1. 

These 1:  Schon in der Bibel ändert sich das Gottesbild radikal.
·   Der uralte nomadische Mythos von Adam und Eva und dem Paradies in

   1. Mose 2 aus der Zeit um -1250
·   wurde von den Juden siebenhundert Jahre später ersetzt
    durch den völlig neuen kosmischen Schöpfungsbericht
     der Priesterschaft in 1. Mose 1 um -550,  

     nachdem sie aus der Gefangenschaft in dem damals wissenschaftlich weit vorausentwickelten Babylon nach Israel zurückgekommen waren.

These 2:   Der Wandel des Gottesbildes in sich.
·  In 1. Mose 2 aus der israelitischen Nomadenzeit    

   bestimmte das anthropo-zentrische Weltbild ein anthropo-morphes Gottesbild.
·  In 1. Mose 1 nach der Babylonischen Gefangenschaft
   bestimmt das kosmo-zentrische Weltbild aus Babylon
   ein völlig neues kosmo-logisches Gottesbild des biblischen Judentums. 

These 3:   Jedes veränderte Weltbild bedingt ein zu veränderndes Gottesbild:
·   Soll die Konstante Gott auf Zukunft durchhalten werden, dann muss das alte  Gottesbild nach dem neu geltenden Weltbild transformieren, umgestalten werden. Die alten Denk- und Sprachbilder müssen relativiert und im neuen Seinsverständnis neu zur Sprache gebracht werden. Nur in einem solchen Transformationsprozess gelingt es, die tradierte Seinskonstante Gott in die neue Zeit hinein glaubwürdig zur Wirkung zu bringen. Deshalb der Titel meines Buches 1976:  IST GOTT EINE MATHEMATISCHE FORMEL?

Dieser theologische Dreisatz hatte eine unglaubliche Wirkung. Zunächst natürlich Erschrecken. Helle Aufregung, ja, Empörung. Wie in einem Wespennest. Aber schon bald danach setzte in meiner Gemeinde etwa Großartiges ein:

Ein befreiender Entmythologisierungs- und Entdogmatisierungsprozess:             
Mitdenkende Menschen begriffen schnell, dass die Freisetzung aus veralteten Bildern und Formeln, von immer nur nachgesagten Bekenntnissätzen und Dogmen eine Erlösung für das denkende Ich war. Alles war jetzt offen, alles konnte sein, konnte frei gedacht werden. Der Denkhorizont erschien plötzlich endlos weit – auch in der Kirche! Du brauchst deine Vernunft nicht an der Kirchentür wie einen Hut absetzen. Mensch, deine Gedanken sind frei … ! 

Mein Leitsatz für die Konfirmanden und die ganze Gemeinde hieß:
·   Gott Denken
     Du kannst dir Gott vorstellen als Höchstwert deines Lebens,   
     um dir so die Fülle deiner Lebensmöglichkeiten bewusst zu machen.
Gott also im Denkprozess.
·   Erledigt war damit das Denken von Gott her,
     ausgehend also von einer fremdbestimmenden göttlichen Zentralmacht
    aus der Vergangenheit, einem Gott aus der Hinterwelt.
·  Nicht erledigt, ja, gefordert, war das Denken auf Gott hin,
die Frage nach etwas Letztgültigem im eigenen Leben,  als sich Ereignendes
in der Zukunft nach vorn. Jeder war dazu gefragt. 

Das Denken im realen Dasein des Menschseins und die Projektion über das Dasein hinaus nach vorn stehen aufgrund der Bedürfnisstruktur des Menschen in enger Korrelation.  Physik bedingt das Weiterdenken in die Metaphysik, wobei schon bei Aristoteles die Metaphysik nicht das absolut Jenseitige meint (Platon), sondern das Diesseitig-Allgemeingültige, die Anbindung an das Immanent- Universale, die Einbindung in die letzten Gründe und Zusammenhänge des weltlichen Seins, das sich als Zukunft ereignet. 

Ich selbst als Pastor geriet damals durch den vitalen geistigen Aufbruch in dramatischen Denkdruck. Tausend Fragen brachen auf von allen Seiten: Von meiner Gemeinde, von den Lesern meiner ganzseitigen theologischen ZEIT-Artikel, von den Kollegen auf einer allerersten Geistlichen Sondersynode, die mit mir  einen ganzen Tag nur über meine Gott-Thesen diskutierten, schließlich von der Kirchenleitung, die mir einen Ketzerprozess androhte, mich in vielen Vorgesprächen verhörte bis sie mir einen offiziellen Glaubensprozess machte.

Ich konnte selbst nicht mehr in alte Formeln zurück, konnte nicht stoppen, musste voraus laufen, immer neu und weiter begründen. Fieberhaft habe ich Predigt für Predigt, Vortrag für Vortrag, Verhör für Verhör an meinem eigenen theologischen Ansatz gearbeitet. Damals ein wahnsinnig aufregender Denkprozess.

Dabei war der Rückgriff auf Religion und Theologie nie so vital wie in diesem offenen Denkprozess. Das neue Denken suchte sich Vorbilder, Denkmuster, Erfahrungswerte. Plötzlich spielten Religion und Theologie als Fundus kollektiven Erfahrungswissens der abendländischen Kultur eine riesen Rolle.
In diesem komplexen Denkprozess lag ein schwerer Selbstfindungsprozess. 

Ich breche hier ab, komme später noch einmal darauf zurück, bringe hier erst noch einen weiteren unbedingt notwendigen Gedanken ein.



[1]   Wörtlich: Zermalmt die Niederträchtige (Kirche mit ihrem Gott)
[2]   Griechisch:  anthropos – Mensch, morphe – Gestalt
[3]   Sprachwissenschaft: In erzählender Form darstellen
[4]   Mit dem Menschen als Ziel und Mittelpunkt
[5] Paul Schulz, IST GOTT EINE MATHEMATISCHE FORMEL? Rowohlt, 1976, Seite  

 

 

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Vortrag gehalten am 18. April 2015
in der Evangelischen Akademie Hofgeismar
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Zur Einleitung:
Zwei sich widersprechende Axiome[1]                                                                  

Meinem Vortrag liegt das säkular-atheistische Axiom zugrunde:
Es gibt nur eine einzige Wirklichkeit, die diesseitige Wirklichkeit in sich.
Diese eine Wirklichkeit in sich ist im Detail und insgesamt – ohne Gott:
Ein monistisch[2]-holistisches[3] Denkmodell.

Dem steht entgegen das religiös-theologische Axiom:
Es gibt zwei Wirklichkeiten von unterschiedlicher Wertigkeit.
Eine diesseitige und eine jenseitige Wirklichkeit – bedingt in und durch Gott:
Ein dualistisch[4]-autonomistisches[5] Denkmodell. 

Theoretisch sind beide Systeme vom Prinzip her ausreichend diskutiert,
unabhängig davon, was der Einzelne denkt und wo er weltanschaulich steht.
Wir brauchen uns hier also über die Axiomatik an sich nicht zu streiten, denn:

Vor  zweitausendsechshundert  Jahren haben große Naturforscher der Antike
das weltliche Naturverständnis begründet:
Thales – Demokrit – Aristoteles – Epikur – Lukrez
dachten im Sinne eines atheistischen Axioms und schufen gegen das
damals herrschende religiös-theologische Weltbild ein säkulares Weltbild.
Diesen säkular-atheistischen Denkansatz nenne ich:   A-theos Axiom.

Das vorausgehende religiös-theologische Weltbild ist also viel älter.
Es entstand in seinen ersten Formen vor etwa zehntausend Jahren in mythischen Schöpfungsvorstellungen der frühen sumerischen, ägyptischen, babylonischen Hochkulturen. Im TANACH[6] des Altjudentums befinden sich sogar zwei völlig verschiedene religiös-theologische Schöpfungstexte:

·   1. Mose, Kapitel 2, der religiöse, uralte Schöpfungsmythos von Adam und Eva im Paradies, aufgeschrieben etwa um  -1250[7],  aber sicher viel älter;
·   1. Mose, Kapitel 1, der theologische, neue kosmische Schöpfungsbericht
der Priesterschrift, aufgeschrieben etwa um  -550, nach der Gefangenschaft
der Israeliten in Babylon, das damals wissenschaftlich hoch entwickelt war.
Diesen religiös-theologischen Denkansatz nenne ich:   Theos-Axiom. 

Beide Axiome, das A-theos– und das TheosAxiom stehen mit ihren jeweiligen Weltbildern in diametralem Widerspruch gegeneinander. Sie sind nicht gegeneinander offen, nicht kompatibel, schließen sich gegeneinander aus.
–   In keinem Labor der Welt wird Gott als Grundlage der Forschung anerkannt
–   In keiner Kirche der Welt wird ein gottloses Phänomen angebetet.

Diese Vorbemerkung soll Ihnen zeigen, aus welchem Ansatz her ich hier rede.

 
 

Thema I

1]        Die Evolution des Bewusstseins                                                                            
           
der Menschheit und des einzelnen Menschen

Der menschliche Geist ist nicht vom Himmel gefallen.
Das Bewusstsein des Menschen, seine Ideen und Theorien,
seine Kultur in unterschiedlichen Religionen und Weltanschauungen,
seine naturwissenschaftlichen Erkenntnisse  und Theorien sind in ihren
Anfängen und Entwicklungen wissenschaftlich präzise zu definieren.
Von daher lässt sich die Geistesgeschichte der Kulturmenschen
in drei Stadien darstellen: 

Zunächst als Stufe 1:  Animismus[8] und Religion,
Das Erwachen des menschlichen Bewusstseins seit 10.000 Jahren.

Ihr Denk- und Sprachmodell sind Mythen, 
z. B. der Schöpfungsmythos  von Adam und Eva im Paradies
in 1. Mose, Kapitel 2, aufgeschrieben um -1250. 

Dann als Stufe 2:       Theologie und Philosophie,
Die Entfaltung des menschlichen Bewusstseins seit 2600 Jahren.

Ihr Denk- und Sprachmodell sind Lehrsätze und Dogmen,
z. B. der kosmische Schöpfungsbericht der Priester
in 1. Mose, Kapitel 1, aufgeschrieben um -550, gut 700 Jahre später. 

Zuletzt als Stufe 3:      Naturwissenschaften und Technik,
als rationale Wissenschaft seit Galileo Galilei seit 350 Jahren.      

Ihr Denk- und Sprachmodell sind mathematische Formeln, z.B.
Heisenbergs Weltformel oder Hawkings GUT[9]-Universaltheorie,
aktuelle Ganzheitsmodelle des naturwissenschaftlichen Weltbildes. 

Auguste Comte meinte, dass  jede vorausgehende Stufe durch
die nachfolgende Stufe falsifiziert und damit erledigt sei.
Demnach lebten wir heute in dem alleingültigen Zeitalter
der Naturgesetze und ihrer Technik. 

Das ist falsch. Die Menschen heute denken und leben
keineswegs allein in dem  säkularen Weltbild der dritten Stufe.
Sie leben mit ihrem Selbstverständnis  vielmehr gleichzeitig
in allen drei Bewusstseinsstufen:

·   Mit seinen Todesängsten ist der Mensch noch immer tief
      in religiösen Vorstellungen verankert und flüchtet sich
      in mythische Dimensionen.
·   In seinem Wertesystem klammert er sich geradezu verzweifelt
      an die Zehn Gebote als theologische Legitimation seines Handels.
·   Allein im technischen Alltag hat er sich der säkularen Realität
     unterworfen, denn wenn er eine falsche Code-Zahl eingibt,

     nützt ihm auch kein Beten mehr.

Alle drei Stufen haben also mit ihren völlig unterschiedlichen Ebenen
Zugriff auf den heutigen Menschen. In dieser Spaltung des Bewusstseins
liegt der Grund für die große Verunsicherung vieler Menschen unserer Zeit:

·   Ihr Selbstbewusstsein hat einen finsteren Keller (religiöse Urängste),
·   ein luftflatteriges Dach (spekulative Theologie)
·   und eine hell ausgeleuchtete Wohnetage
     mit Wohnzimmer, Küche und Bad (im säkular-digitalisierten Lifestyle).

Die Menschen heute bewegen sich also in ihrem Alltag in völlig gegensätzlichen Bewusstseinsräumen und sollen ihr Leben dennoch in einem Selbstverständnis mit einheitlicher Sinngebung verstehen.

 

Zur Einleitung:                                                                             
Zwei sich widersprechende Axiome[10]                                                                 

Meinem Vortrag liegt das säkular-atheistische Axiom zugrunde:
Es gibt nur eine einzige Wirklichkeit, die diesseitige Wirklichkeit in sich.
Diese eine Wirklichkeit in sich ist im Detail und insgesamt – ohne Gott:
Ein monistisch[11]-holistisches[12] Denkmodell. 

Dem steht entgegen das religiös-theologische Axiom:
Es gibt zwei Wirklichkeiten von unterschiedlicher Wertigkeit.

Eine diesseitige und eine jenseitige Wirklichkeit – bedingt in und durch Gott:
Ein dualistisch[13]-autonomistisches[14] Denkmodell. 

Theoretisch sind beide Systeme vom Prinzip her ausreichend diskutiert,
unabhängig davon, was der Einzelne denkt und wo er weltanschaulich steht.
Wir brauchen uns hier also über die Axiomatik an sich nicht zu streiten, denn: 

Vor  zweitausendsechshundert  Jahren haben große Naturforscher der Antike
das weltliche Naturverständnis begründet:
Thales – Demokrat – Aristoteles – Epikur – Lukrez
dachten im Sinne eines atheistischen Axioms und schufen gegen das
damals herrschende religiös-theologische Weltbild ein säkulares Weltbild.
Diesen säkular-atheistischen Denkansatz nenne ich:   A-theos Axiom. 

Das vorausgehende religiös-theologische Weltbild ist also viel älter.
Es entstand in seinen ersten Formen vor etwa zehntausend Jahren in mythischen Schöpfungsvorstellungen der frühen sumerischen, ägyptischen, babylonischen Hochkulturen. Im TANACH[15] des Altjudentums befinden sich sogar zwei völlig verschiedene religiös-theologische Schöpfungstexte:

·   1. Mose, Kapitel 2, der religiöse, uralte Schöpfungsmythos von Adam und Eva im Paradies, aufgeschrieben etwa um  -1250[16],  aber sicher viel älter;
·   1. Mose, Kapitel 1, der theologische, neue kosmische Schöpfungsbericht
der Priesterschrift, aufgeschrieben etwa um  -550, nach der Gefangenschaft
der Israeliten in Babylon, das damals wissenschaftlich hoch entwickelt war.
Diesen religiös-theologischen Denkansatz nenne ich:   Theos-Axiom.

Beide Axiome, das A-theos– und das TheosAxiom stehen mit ihren jeweiligen Weltbildern in diametralem Widerspruch gegeneinander. Sie sind nicht gegeneinander offen, nicht kompatibel, schließen sich gegeneinander aus.
–   In keinem Labor der Welt wird Gott als Grundlage der Forschung anerkannt
–   In keiner Kirche der Welt wird ein gottloses Phänomen angebetet. 

Diese Vorbemerkung soll Ihnen zeigen, aus welchem Ansatz her ich hier rede.

  

1]        Die Evolution des Bewusstseins                                                                            
            der Menschheit und des einzelnen Menschen

Der menschliche Geist ist nicht vom Himmel gefallen.
Das Bewusstsein des Menschen, seine Ideen und Theorien,
seine Kultur in unterschiedlichen Religionen und Weltanschauungen,
seine naturwissenschaftlichen Erkenntnisse  und Theorien sind in ihren
Anfängen und Entwicklungen wissenschaftlich präzise zu definieren.
Von daher lässt sich die Geistesgeschichte der Kulturmenschen
in drei Stadien darstellen: 

Zunächst als Stufe 1:  Animismus[17] und Religion,
Das Erwachen des menschlichen Bewusstseins seit 10.000 Jahren.

Ihr Denk- und Sprachmodell sind Mythen,
z. B. der Schöpfungsmythos  von Adam und Eva im Paradies
in 1. Mose, Kapitel 2, aufgeschrieben um -1250. 

Dann als Stufe 2:       Theologie und Philosophie,
Die Entfaltung des menschlichen Bewusstseins seit 2600 Jahren.

Ihr Denk- und Sprachmodell sind Lehrsätze und Dogmen,
z. B. der kosmische Schöpfungsbericht der Priester
in 1. Mose, Kapitel 1, aufgeschrieben um -550, gut 700 Jahre später. 

Zuletzt als Stufe 3:      Naturwissenschaften und Technik,
als rationale Wissenschaft seit Galileo Galilei seit 350 Jahren.      

Ihr Denk- und Sprachmodell sind mathematische Formeln, z.B.
Heisenbergs Weltformel oder Hawkings GUT[18]-Universaltheorie,
aktuelle Ganzheitsmodelle des naturwissenschaftlichen Weltbildes. 

Auguste Comte meinte, dass  jede vorausgehende Stufe durch
die nachfolgende Stufe falsifiziert und damit erledigt sei.
Demnach lebten wir heute in dem alleingültigen Zeitalter
der Naturgesetze und ihrer Technik. 

Das ist falsch. Die Menschen heute denken und leben
keineswegs allein in dem  säkularen Weltbild der dritten Stufe.
Sie leben mit ihrem Selbstverständnis  vielmehr gleichzeitig
in allen drei Bewusstseinsstufen:
·   Mit seinen Todesängsten ist der Mensch noch immer tief
in religiösen Vorstellungen verankert und flüchtet sich
in mythische Dimensionen.
·   In seinem Wertesystem klammert er sich geradezu verzweifelt
an die Zehn Gebote als theologische Legitimation seines Handels.
·   Allein im technischen Alltag hat er sich der säkularen Realität
     unterworfen, denn wenn er eine falsche Code-Zahl eingibt,
    nützt ihm auch kein Beten mehr. 

Alle drei Stufen haben also mit ihren völlig unterschiedlichen Ebenen
Zugriff auf den heutigen Menschen. In dieser Spaltung des Bewusstseins
liegt der Grund für die große Verunsicherung vieler Menschen unserer Zeit:
·   Ihr Selbstbewusstsein hat einen finsteren Keller (religiöse Urängste),
·   ein luftflatteriges Dach (spekulative Theologie)
·   und eine hell ausgeleuchtete Wohnetage
     mit Wohnzimmer, Küche und Bad (im säkular-digitalisierten Lifestyle). 

Die Menschen heute bewegen sich also in ihrem Alltag in völlig gegensätzlichen Bewusstseinsräumen und sollen ihr Leben dennoch in einem Selbstverständnis mit einheitlicher Sinngebung verstehen.

Dabei besteht auch heute noch ein sehr starkes Interaktionsfeld zwischen den unterschiedlichen Etagen: Das säkular-digitalisierte Weltbild der Naturwissenschaft stellt immer wieder aufs Neue die Prinzipien des religiös-theologischen Weltbildes der Vergangenheit in Frage, hebt die alten Lebensweisheiten durch neue Erkenntnisse der diesseitigen Wirklichkeit auf, zwingt im Kopf ständig zum Aus- und Umräumen.

Ein  riesiger Falsifizierungs-  und Transformationsprozess, in dem wir alle stecken. Kaum jemand, der die letzten 50 Jahre erlebt hat, hat die naiv gelernten Lebensprinzipien seiner Jugend durchhalten können. Immer neue geistige Veränderungen sind hereingebrochen: Das biogenetische Menschenbild seit Christiaan Barnards erster Herztransplantation. Die makrokosmischen Weltalldimensionen seit Sputnik.  Der Verlust des autoritären Vaterbildes und die Eigenständigkeit der Frau. Künstliche Fortpflanzung und humanes Sterben. Liberalisierte Geschlechtsbeziehungen. Die Globalisierung der Großkulturen und eine nahezu unbegrenzte Digitalisierung der Kommunikation und Produktionsprozesse. Alles radikale Umbrüche. Wir nennen diesen Prozess

Säkularisation 
Säkularisation ist ursächlich die Einziehung kirchlichen Immobilienbesitzes in weltliches Staatseigentum. Der Staat enteignet klerikalen in säkularen Besitz. 

Übertragen bedeutet das: Das naturwissenschaftliche Denken transformiert
bislang von der Kirche besetzte religiöse Glaubensinhalte in weltliches Wissen.  
Eine geistige Enteignung religiösen Bewusstseins in weltliches Bewusstsein. 

Dabei gerät der Mensch mit seiner rationalen Forschung in letzte Distanz zu sich selbst, indem er, das Subjekt, sich selbst zum Objekt seiner Forschung macht.
Naturwissenschaftliche Forschungen lassen sich durch nichts mehr begrenzen.
Sie lassen den Menschen selbst nicht aus, nicht einmal sein noch so persönliches Selbstverständnis, seine innersten Wünsche, seinen Gott-Glauben.



[1]   Ein als absolut richtig behaupteter Grundsatz, aus dem andere Aussagen abgeleitet werden. 
[2]   Philosophisch-evolutionäres Modell einer einzigen in sich geschlossenen Wirklichkeit. E.Häckel.  
[3]   Philosophisch-physikalisches Modell einer ganzheitlich-kosmischen Einheit. St.W.Hawkings.
[4]   Religiös-theologische Lehre zweier voneinander unabhängiger Seinsprinzipien.
[5]    Widerspruch zweier Aussagen, die in sich und zusammen Gültigkeit beanspruchen.
[6]    = Altes Testament = die ureigene >Heilige Schrift< des Judentums unabhängig vom Christentum.  
[7]    Statt der Zählung 1250 vor Christus setzen wir – wie in der Mathematik vor Null üblich – immer vor eine Jahreszahl vor Null ein Minuszeichen, also:  1250 vor Christus ? -1250.
[8]   Völkerkunde: Der frühe Glaube an anthropomorph gedachte seelische Mächte der Natur.
[9]   General Unified Theory.
[10]   Ein als absolut richtig behaupteter Grundsatz, aus dem andere Aussagen abgeleitet werden. 
[11]   Philosophisch-evolutionäres Modell einer einzigen in sich geschlossenen Wirklichkeit. E.Häckel.  
[12]   Philosophisch-physikalisches Modell einer ganzheitlich-kosmischen Einheit. St.W.Hawkings.
[13]   Religiös-theologische Lehre zweier voneinander unabhängiger Seinsprinzipien.
[14]    Widerspruch zweier Aussagen, die in sich und zusammen Gültigkeit beanspruchen.
[15]    = Altes Testament = die ureigene >Heilige Schrift< des Judentums unabhängig vom Christentum.  
[16]   Statt der Zählung 1250 vor Christus setzen wir – wie in der Mathematik vor Null üblich –
     immer vor eine Jahreszahl vor Null ein Minuszeichen, also:  1250 vor Christus ? -1250.
[17]   Völkerkunde: Der frühe Glaube an anthropomorph gedachte seelische Mächte der Natur.
[18]   General Unified Theory.

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