Wiederaufnahmeverfahren
Gliederung
Hier finden Sie alle Unterlagen zum sogenannten „Ketzerprozess“ als Download.
I. Juristischer Antrag auf Revision mit materieller juristischer Begründung
II. Theologische Begründung des Anspruchs und Antrags auf Revision
III. Presse-Exzerpt aus der Theologischen Begründung
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IV. Weitere Hinweise zur Person und zum Fall Dr. Paul Schulz
V. Reaktion der Kirche
VI. Presse
VII. Schlusswort Dr. Paul Schulz
I. Juristischer Antrag auf Revision mit materieller juristischer Begründung
An den
Senat für Lehrfragen der Vereinigten
Evangelisch-Lutherischen Kirchen Deutschlands
Antrag
auf
Wiederaufnahme und Revision
des
Lehrzuchtverfahrens
vom 21. Februar 1979
gegen
Dr. theol. Paul Schulz
Juristischer Antrag
und
Materielle juristische Begründung
Hamburg, 21. April 2010
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I. Antrag auf Wiederaufnahme des Lehrzucht-/ Lehrbeanstandungsverfahrens
analog §§ 97 ff. DG EKD
gegen Pastor Dr. theol. Paul Schulz
geb. am 29. August 1937 – Antragsteller
Verfahrensbevollmächtigter: Rechtsanwalt Marc Fochler, Ferdinandstraße 47,20095 Hamburg
wegen Wiederaufnahme des mit Feststellungsurteil des Spruchkollegiums vom 21.02.1979 abgeschlossenen Verfahrens gegen den Antragsteller wegen Lehrbeanstandung.
Namens und in Vollmacht des Antragstellers beantrage ich hiermit:
- Das Lehrbeanstandungsverfahren in der Kirchenrechtsache gegen den Antragsteller, welches mit Feststellungsurteil vom 21.02.1979 abgeschlossen wurde, analog §§ 97 ff. DG EKD wiederaufzunehmen.
- Das am 21.02.1979 ergangene Feststellungsurteil des Spruchkollegiums dahingehend abzuändern, dass die Feststellung, der Antragsteller sei öffentlich durch Wort und Schrift in der Darbietung der christlichen Lehre in entscheidenden Punkten in Widerspruch zum Bekenntnis der evangelisch – lutherischen Kirche getreten, aufgehoben wird.
- Die Kosten des Wiederaufnahmeverfahrens einschließlich der Kosten für den Rechtsbeistand des Antragstellers für dieses Verfahren trägt gemäß § 39 Abs. III Lehrbeanstandungsordnung die Evangelisch-Lutherische Kirche Deutschlands.
Weiterhin erklärt der Antragsteller zum Gegenstand und Umfang des Wiederaufnahmebegehrens, dass mit diesem Verfahren nicht die Abänderung der Entscheidung zum Ausscheiden aus dem Dienst der Evangelisch – Lutherischen Kirche gem. § 100 i. V. m. § 99 des Pfarrgesetzes der VELKD angestrebt wird. Auch sonstige, sich eventuell als Konsequenz einer Abänderung der Entscheidung ergebende finanzielle oder dienstrechtliche Forderungen werden, mit Ausnahme des Antrags zu 3., gegenüber der Evangelisch – Lutherischen Kirche Deutschlands nicht geltend gemacht oder, soweit sie sich als zwingende rechtliche Folge aus der Abänderung des Urteils ergeben sollten, schon jetzt auf sie verzichtet. Es geht allein um die Rehabilitierung der seinerzeit vom Antragsteller geäußerten Lehrmeinung.
Der Antragsteller weist vorab ebenfalls darauf hin, dass er, da die Wideraufnahme eines Lehrzuchtverfahrens ein kirchenrechtliches Novum darstellt, vergleichsweise auch mit einem anderen Verfahren zur Überprüfung des Lehrzuchturteils von 1979 einverstanden wäre, soweit Inhalt dieses Verfahrens die Frage der Rehabilitation der damals geäußerten Lehrmeinung ist und das Ergebnis des Verfahrens innerhalb der VELKD Verbindlichkeit erhält.
Die Vollmacht des Antragsbevollmächtigten ist im Original als
Anlage Ast 1
beigefügt. Gemäß § 97 Abs. III S. 1 DG EKD ist für das Wiederaufnahmeverfahren kein Beistand erforderlich, der den Voraussetzungen des § 24 DG EKD / 21 Abs. II Lehrbeanstandungsordnung entspricht, da insoweit ein Verweis auf entsprechende Normen fehlt. Die Zugehörigkeit zu einer Gliedkirche der Evangelisch – Lutherischen Kirche Deutschlands und die Wählbarkeit zu kirchlichen Ämtern als Voraussetzung einer Befugnis zum Beistand sind daher nicht erforderlich.
Begründung
I. Formale Zulässigkeit des Wiederaufnahmeantrages
Der Antrag auf Wiederaufnahme ist analog §§ 97 ff. DG EKD zulässig, da eine Analogie zu diesen Regelungen für den vorliegenden Sachverhalt getroffen werden kann und analog § 98 Nr. 2 DG EKD ein Grund für die Wiederaufnahme vorliegt.
a. Analogie zu §§ 97 ff. DG EKD
Der Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens ist analog §§ 97 ff. DG EKD zulässig, denn durch das Fehlen von Vorschriften für die Wiederaufnahme eines Lehrzuchtverfahrens in der Lehrbeanstandungsordnung liegt eine Regelungslücke vor, die planwidrig ist. Weiterhin ist der zu beurteilende Sachverhalt so weit mit Tatbeständen des Disziplinarrechtes vergleichbar, die der Kirchengesetzgeber im Disziplinargesetz geregelt hat, dass angenommen werden kann, dieser wäre, hätte er die Lücke bedacht, bei einer Interessenabwägung zu dem gleichen Abwägungsergebnis wie bei den vorhandenen Normen des Disziplinargesetzes gekommen.
aa. Geltende Rechtslage, Regelungslücke
Formale rechtliche Grundlage für das Lehrbeanstandungsverfahren ist grundsätzlich die „Ordnung bei der Beanstandung der Lehre ordinierter Diener am Wort (Lehrbeanstandungsordnung)“ in der Fassung vom 27. Juni 1963. Das Lehrbeanstandungsverfahren sieht keine Regelungen für ein Wiederaufnahmeverfahren vor. Es ist daher eine Regelungslücke vorhanden.
bb. Planwidrigkeit der Regelungslücke
Auch eine Planwidrigkeit der Regelungslücke liegt vor.
Zur Feststellung der Planwidrigkeit einer Lücke ist zunächst auf die Wertungen im Dienstzuchtverfahren zu verweisen, welches in der Vergangenheit um das Lehrzuchtverfahren/Lehrbeanstandungsverfahren ergänzt wurde. So trägt das Dienstzuchtverfahren der Möglichkeit der Änderung der Tatsachen- oder Beweislage nach Abschluss des Verfahrens dadurch Rechnung, dass im Rahmen der §§ 97 ff. DG EKD eine Wiederaufnahme des Verfahrens erfolgen kann.
Im Lehrbeanstandungsverfahren ist diese Möglichkeit nicht gegeben, obwohl es sich seinem Wesen nach nicht einmal auf Tatsachen und Beweise, sondern letztlich in seiner Unrechtsfeststellung nur auf entgegenstehende Meinungen stützt. Die Möglichkeit einer Änderung der Meinungslage – insbesondere innerhalb der evangelisch-lutherischen Kirche im Rahmen fortlaufender Diskussion – ist aber bei Abfassung dieser Verfahrensregelung offensichtlich übersehen worden.
Ändert sich aber die Meinungslage innerhalb der evangelisch lutherischen Kirche selbst, so kann die Feststellung des Widerspruchs zur Grundsubstanz des evangelisch lutherischen Glaubens, wie sie gegen die Thesen des Antragstellers durch das Lehrzuchturteil getroffen wurde, nicht mehr aufrecht erhalten werden. Es ergibt sich in diesem Fall deshalb die gleiche Situation, als wenn in einem Dienstzuchtverfahren neue Tatsachen oder Beweise bekannt würden, die eine andere Sichtweise auf das getroffene Urteil rechtfertigen. Für diesen gleichgearteten Fall gäbe es jedoch das Instrumentarium der §§ 97 ff. DG EKD, so dass in der Lehrbeanstandungsordnung im Gegensatz zu Dienstzuchtverfahren von einer planwidrigen Lücke auszugehen ist.
Diese Planwidrigkeit ergibt sich im Übrigen auch weiterhin aus dem Gedanken, dass eine Amtsperson, der selbst ein erhebliches Dienstvergehen wie z.B. ein sexueller Übergriff vorgeworfen wurde, derzeit die Möglichkeit zur Wiederaufnahme des Verfahrens und damit auch zu einer möglichen Rehabilitierung erhält, während einer Amtsperson, die aus Gewissensgründen nur eine Lehrmeinung vertreten hat, die nicht mit einem angenommenen Konsens in der Kirche in Bezug auf die Grundsubstanz des evangelisch – lutherischen Glaubens im Einklang stand, diese Möglichkeit verwehrt bleibt. Dies auch dann, wenn die evangelisch – lutherische Kirche selbst möglicherweise zwischenzeitlich von dem damals der Urteilsfindung zu Grunde liegenden Konsens abgerückt ist. Diese Ungleichgewichtung kann jedoch nur dadurch entstanden sein, dass man diese Möglichkeit bei Abfassung der Lehrzucht/Lehrbeanstandungsordnung schlicht übersehen hat. Die Regelungslücke ist mithin planwidrig.
cc. Vergleichbarkeit der zu regelnden Sachverhalte
Zur Frage der Vergleichbarkeit beider durch das entsprechende Kirchengesetz geregelten Sachverhalte ist zunächst historisch zu berücksichtigen, dass das damalige Lehrzuchtverfahren als Teilbereich des Dienstzuchtverfahrens von diesem abgespalten wurde, um eine Handhabe für den Fall zu schaffen, dass ein Kirchenvertreter bei vollständig disziplinarisch korrekten Verhalten dennoch in seiner Verkündung und Lehre Ansichten vertritt, die im Widerspruch zum Inhalt der Heiligen Schrift stehen, wie er in den Bekenntnissen und in den Grundartikeln der Kirche der Union und ihrer Gliedkirchen bekannt geworden ist. Erst durch diese Abspaltung sind daher letztlich die Unterschiede im Hinblick auf die Frage eines Wiederaufnahmeverfahrens entstanden. Aus diesem Grund gibt es auch ein hohes Maß an Übereinstimmung in den Regelungsinhalten der beiden Verfahren.
So ist zunächst beiden Regelungen gemeinsam, dass sie kirchliche Reaktionen auf die vermutete Verletzung von Rechts- oder Bekenntnispflichten ihrer Amtträger darstellen. Weiterhin sehen beide Gesetze als Rechtsfolge auch Entscheidungen vor, die für den betroffenen Amtsträger dieselben spürbaren Nachteile zur Folge haben. So verliert der Amtsträger sein Amt und die Rechte aus seiner Ordination, was letztlich einer Entfernung aus kirchlicher Verkündung und Lehre entspricht.
Die Gesetze unterscheiden sich lediglich dadurch, dass das Lehrbeanstandungsverfahren eine besondere Nähe zu Bekenntnisfragen aufweist und dadurch dem Schuldvorwurf, im Gegensatz zum Dienstvergehen, keine Bedeutung zukommt. Dies jedoch begründet zumindest keine solch grundlegende Systemverschiedenheit im Hinblick auf die Regelungen des Wiederaufnahmeverfahrens, dass die Übertragung dieser Regelungen im Wege der Analogie ausgeschlossen wäre.
Eine Analogie zu den §§ 97 ff. DG EKD und damit die Wiederaufnahme des Verfahrens ist daher grundsätzlich möglich und geboten.
II. Materielle Begründetheit des Wiederaufnahmeantrages analog §§ 98 Nr. 2 DG EKD
Der Wiederaufnahmeantrag des Verfahrens ist auch gem. § 98 Nr. 2 DG EKD erforderlich, da neue Tatsachen vorliegen, die eine andere Entscheidung begründen könnten, und diese zum Zeitpunkt des Prozesses auch nicht hätten vorgebracht werden können.
a) Neue Tatsache analog § 98 Nr. 2 DG EKD
Als neue Tatsache analog § 98 Nr. 2 wird der Fall „Klaas Hendrikse“ angeführt, der der Evangelisch-Lutherische Kirche der Niederlanden (Mitglied der uniierten „Protestantischen Kirche in den Niederlanden“ – PKN) angehört und bis heute von der Kanzel predigt, dass es Gott nicht gäbe. Es wird insoweit auf den in
Anlagenkonvolut Ast 2
beigefügten Zeitungsartikel verwiesen.
Die regionale Kirchenleitung beschloss als Reaktion auf die Predigten des Pastors Hendrikse, es gäbe keinen Gott, und vereinzelte Beschwerden aus der Gemeinde hierüber, dass dieser seine Predigten in der Kirche und damit in der Gemeinde fortsetzen dürfe. Ferner seien Proteste von konservativen Gläubigen in der Gemeinde nicht Grund zum Verbot dieser Predigten oder zur Amtssuspendierung Pastor Hendrikses. Vielmehr begründet die regionale Kirchenleitung ihre Offenheit mit dem Beschluss, sie wolle sich notwendigerweise von antiquierten Gott-Vorstellungen lösen.
Die PKN beschloß nach dieser Entscheidung der regionalen Kirchenleitung, dass zur Weiterführung des „Gott-Streites“ die theologischen Fragen als zentrales Thema auf einer Synode behandelt werden sollten. Das Gesamtverfahren ist zwischenzeitlich abgeschlossen und verlief ohne dienstrechtliche oder sonstige Konsequenzen für Pastor Hendrikse. Er versieht weiter seinen Dienst als Pastor, ohne dass er seine Ansichten widerrufen hätte.
b. Beziehung zum Lehrzuchturteil gegen den Antragsteller
Der „Gott-Streit“ des Pastors Klaus Hendrikse und dessen Entscheidung durch die PKN ist inhaltlich auf das engste mit dem seinerzeitigen „Gott-Streit“ des Antragstellers verbunden. Der Streit und seine Entscheidung hat weiterhin die Qualität einer Tatsache im Sinne des § 98 Nr.2 DG EKD analog, die eine Neubeurteilung des Sachverhaltes im Rahmen eines Wiederaufnahmeverfahrens rechtfertigt, da sich aus diesem Vorgang der Rückschluss aufgrängt, dass sich der „magnus consensus“ innerhalb der evangelischen Kirche zur Gott – Frage verändert haben könnte.
aa. Inhaltliche Übereinstimmung
Eine inhaltliche Übereinstimmung der von Pastor Hendrikse gepredigten Meinung und der seinerzeit vom Antragsteller geäußerten Meinung ist ganz offensichtlich gegeben.
So hat auch der Antragsteller seinerzeit seiner Gemeinde gepredigt, dass es Gott nicht in der Form gäbe, wie ihn die Amtskirche definiere. Ebenfalls wurde von ihm in einem Interview mit der Tageszeit „DIE WELT“ ausgeführt: „Nachdem ich meiner Gemeinde bekannt habe, dass es Gott nicht gibt …“. Ferner wurde in einem Predigtduell zwischen Bischof Dr. Wölber und dem Antragsteller ebenfalls von ihm diese Meinung öffentlich vertreten.
Diese Äußerungen sowie das darauf folgende Verfahren dürften auch in den Akten des Lehrzuchtverfahrens hinreichend dokumentiert sein, so dass deren Beiziehung im Bedarfsfalle angeregt wird.
Diese Äußerungen sowie die weiteren Äußerungen des Antragstellers innerhalb des Verfahrens mit Bezug auf die Nichtexistenz Gottes waren auch die tragenden Gründe für die Verurteilung des Antragstellers als Ergebnis des Lehrzuchtverfahrens mit der Folge des Verlustes aller geistlichen Rechte und seiner dienstrechtlichen Stellung.
bb. Tatsachenqualität im Sinne des § 98 Nr.2 DG EKD analog
Die o. g. durch Pastor Hendrikse sanktionslos geäußerte Meinung sowie die Reaktion der PKN darauf haben auch die Qualität einer neuen Tatsache analog § 98 Nr.2 DG EKD.
So wird zunächst nicht verkannt, dass einer Meinung sowie einer darauf beruhenden Reaktion grundsätzlich nicht der Wert einer Tatsache im engeren prozessualen und naturwissenschaftlichen Sinne zukommt, die möglicherweise im Kern in § 98 Nr.2 DG EKD gemeint sein mag. Andererseits ist jedoch zu berücksichtigen, dass im gesamten Lehrzuchtverfahren nicht Tatsachen im engeren, naturwissenschaftlichen Sinne zur Beurteilung stehen, sondern dass es sich gerade dadurch definiert, dass die Richtigkeit von bestimmten Meinungen, die allein Glaubensfragen sind, bewertet werden. Gerade deshalb wird insoweit auch innerhalb des Lehrzuchtverfahrens/Lehrbeanstandungsverfahrens auf eine sogenannte Grundsubstanz des evangelisch – lutherischen Glaubens („magnus consensus“) abgestellt, auf dessen Tauglichkeit für- und Verbindlichkeit in einem kirchenrechtlichen Verfahren allerdings noch an anderer Stelle einzugehen sein wird. An dieser Stelle reicht zumindest die Feststellung, dass letztlich im Lehrzucht/Lehrbeanstandungsverfahren nur Meinungen in Form von Glaubensfragen zur Disposition standen und stehen.
Dies hat aber auch Rückwirkung auf die Auslegung des Begriffes der Tatsache im Sinne des § 98 Nr. 2 DG EKD analog.
So ist, da das ganze Lehrzucht/Lehrbeanstandungsverfahren letztlich auf Glaubensfragen beruht, der Begriff der Tatsache auch so auszudehnen, dass als Tatsachen in diesem Verfahren auch Umstände zu gelten haben, die den Rückschluss zulassen, dass sich die Meinung über die Grundsubstanz des evangelisch – lutherischen Glaubens geändert haben könnte (die Frage ob er sich tatsächlich geändert hat, wäre dagegen erst im wiederaufgenommenen Verfahren zu klären, in dem entschieden werden müßte, ob dem Antrag auf Urteilsabänderung stattgegeben werden muß).
Der Fall Hendrikse lässt jedoch gerade diesen Rückschluss zu, dass sich der „magnus consensus“, soweit er jedenfalls dem Lehrzuchturteil durch die Spruchkammer zur Begründung unterlegt wurde, im Bereich der Amtskirche und im Bereich der Glaubensgemeinschaft insgesamt geändert haben könnte.
So hat die PKN als eigene Amtskirche durch ihr Verhalten, insbesondere jedoch durch das unterlassen von Sanktionen gegen Pastor Hendrikse ein deutliches Signal dafür gesetzt, dass das gesamte dogmatische System hinsichtlich der Gott – Frage in Zukunft zumindest in ihren Reihen offen diskutiert werden soll. Dies kann jedoch nicht ohne Auswirkungen auf die VELKD und auf die Grundlage des Lehrzuchturteils bleiben.
So ist rein formal die Hamburger Landeskirche Mitglied der Vereinigten Evangelisch Lutherischen Kirche in Deutschland (VELKD). Die VELKD gehört wiederum zur Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) und diese wiederum zum Weltbund Protestantischer Kirchen (WPK), dem auch die Protestantische Kirche der Niederlande (PKN) angehört. Schon institutionell besteht daher zwischen der Amtskirche der VELKD und der Amtskirche PKN eine Verbundenheit, die zumindest die Annahme rechtfertigen könnte, auch in Deutschland und in der Amtskirche VELKD könnte eine Meinungsänderung in der Frage nach der Grundsubstanz des evangelisch – lutherischen Glaubens eingetreten sein, was bereits als Grund für die Wiederaufnahme hinreichend wäre.
Überdies ist jedoch unabhängig vom nationalen Entscheidungsbereich der Amtskirchen zu berücksichtigen, dass das Lehrzuchturteil gegen den Antragsteller ausdrücklich als Prüfungsmaßstab die Grundsubstanz des evangelisch – lutherischen Glaubens anführt, gegen die der Antragsteller durch seine Predigten und Veröffentlichungen verstoßen haben soll. Die Spruchkammer räumt hierbei ausdrücklich selbst ein, dass diese Grundsubstanz „eine weite Spanne“ besitzt.
Die Ermittlung der Grundsubstanz des Evangelischen Glaubens ist jedoch nicht notwendigerweise an nationale oder amtskirchliche Grenzen gebunden, da sich auch der evangelisch – lutherische Glaube kaum in nationale Grenzen zwängen lässt und dies selbstverständlich auch nicht gewollt ist. Nationalen Grenzen unterliegt vielmehr nur der verwaltungstechnische Machtbereich einer Amtskirche, wobei im Lehrzuchturteil nicht auf möglicherweise hier vorliegende nationale Differenzen, sondern ausschließlich auf den Gesamtglauben abgestellt worden ist. So wird auch im Lehrzuchturteil an keiner Stelle auf die Grundsubstanz des Evangelischen Glaubens in (West-) Deutschland Bezug genommen. Auch die Ansicht der PKN ist daher ein zu berücksichtigender Teil bei der Ermittlung der Grundsubstanz des evangelisch – lutherischen (Gesamt-) Glaubensbekenntnisses, zumal die Religionsgemeinschaft, der Pastor Hendrikse angehört, im engeren Sinne die Evangelisch-Lutherische Kirche der Niederlanden ist, die im Gegensatz zu calvinistisch geprägten Kirchen innerhalb der PKN dem Glaubensbekenntnis der VELKD näher steht.
Die Entscheidung der PKN, keine Sanktionen gegen Pastor Hendrikse einzuleiten, bietet daher ein Indiz dafür, dass sich der Meinungsstand in Bezug auf die Grundsubstanz des Evangelischen Glaubens auch grenzübergreifend in der Glaubensgemeinschaft geändert haben könnte. Auch hierdurch ist daher die Wiederaufnahme des Verfahrens gerechtfertigt.
c. Unmöglichkeit des Vorbringens im Verfahren
Die Erfüllung dieses Tatbestandbestandsmerkmales ergibt sich schon deshalb, weil sich der Antragsteller gerade auf eine mögliche Änderung der Meinung bezüglich der Grundsubstanz des Evangelischen Glaubens beruft. Diese Meinungsänderung war vor Abschluß des Verfahrens nicht vorhersehbar.
d. Ergebnis
Dem Antrag auf Wiederaufnahme ist stattzugeben. So muß ein Wiederaufnahmeverfahren, obwohl es in der Lehrbeanstandungsverordnung nicht geregelt ist, analog §§ 97 ff. DG EKD durchgeführt werden, da es sonst zu einer willkürlichen und systemwidrigen Ungleichgewichtung zum Dienstzuchtverfahren käme. Durch den Fall des Pastor Hendrikse und der Reaktion der PKN hierauf ist auch analog § 98 Nr. 2 DG EKD eine Tatsache gegeben, die den Rückschluss zulässt, dass sich die damals dem Urteil zugrunde gelegte Meinung bezüglich der Grundsubstanz des Evangelischen Glaubens geändert haben könnte. Allein aufgrund dieser Möglichkeit ist eine Überprüfung der damaligen im Wege des Lehrzuchtverfahrens getroffenen Feststellungen geboten.