Statement 2.2.
Goethes Hermann und Dorothea
und die bürgerliche Moral

2.2.1.   Die späteren christlichen Theologen haben die säkulare Humanität Ciceros (2.1.) an sich gerissen und mit dem Begriff der christlichen Nächstenliebe verbunden. Mit dieser Synthese entwickelten sie ihre gottbegründete Moraltheologie. In ihr werteten sie den antiken, säkularen Humanismus zugunsten eines nun christlichen Humanismus total ab, so dass man schon bald gar nicht mehr wusste, dass es vor dem christlichen Humanismus einen starken, säkularen, >heidnischen< Humanismus gegeben hat. Die Theologen tun auch heute gerne so, als hätte Cicero seine Humanität von den Christen her übernommen, obwohl Cicero 150 Jahre früher geboren ist, bevor es die ersten Christen in Rom gab.

In Sternstunden der späteren europäischen Geistesgeschichte haben der säkulare und der christliche Humanismus im kollektiven Bewusstsein des Abendlandes fruchtbare Schnittstellen gehabt. Eine solche Schnittstelle ist Goethes >Hermann und Dorothea<.

2.2.2.  Goethe (1749 – 1832) selbst war wie viele europäische Intellektuelle seiner Zeit ein zumindest Sympathisant der französischen Aufklärung und auch der französischen Revolution. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit galten auch in der deutschen Klassik als Ideale, allen voran für Friedrich Schiller, der in seinen Dramen die Freiheit des Individuums  (Don Carlos 3,10) als höchste Stufe der Kulturgesellschaft verkündete. Schiller (und Klopstock) wurde von der neuen französischen Nationalversammlung zum Ehrenbürger der ersten   Französischen Republik ernannt.

Aber auch Goethe lässt noch in seinem >Faust 2<  den alten Faust kurz vor seinem Tod angesichts der neuen Küstenlandschaften, die er dem Meer abgerungen hat, und die mit neuem Volk bewohnt werden können, ergriffen ausrufen: Das ist der Weisheit letzter Schluss: Nur der verdient sich Freiheit und das Leben, der täglich sie erobern muss! Und so verbringt, umrungen von Gefahren, hier Kindheit, Mann und Greis sein tüchtig Jahr. Ein solch Gewimmel möcht ich sehn, auf freiem Grund mit freiem Volke stehn! Zum Augenblicke dürft ich sagen: Verweile doch, du bist so schön. Das klang damals und klingt heute noch nach den Freiheitsidealen der Französischen Revolution.

Doch bei vielen deutschen Intellektuellen, auch bei Goethe, brach diese Sympathie für die 89er-Revolution zusammen wegen der grausamen Gewaltherrschaft der Jakobiner unter Robespierre. Im Zeichen der Guillotine wurden zigtausend Adelige und Priester verfolgt, verhaftet, ermordet. Diese entsetzliche Morderei widerte die deutsche Klassik an. Die meisten Intellektuellen in Deutschland wandten sich entsetzt ab, gerade auch Goethe.

An der Idee einer humanen Gesellschaft blieb Goethe trotzdem hängen. Dabei beflügelte ihn eben ganz besonders die klassischen griechische Antike etwa in Gestalt der Iphigenie. Sie hatte er schon in seinem Drama >Iphigenie auf Tauris<  1786  zum klassischen Ideal eines hohen Ethos und einfacher Sittlichkeit hochstilisiert. Von daher schrieb er 1797  >Hermann und Dorothea< gleichsam als generell (säkular- und christlich-) humanistische  Antwort auf die blutrünstige Politik der französischen Terrorherrschaft.

2.2.3.   Goethe hatte wohl schon früh die >Vollkommene Emigrationsgeschichte von den aus dem Erzbistum Salzburg vertriebenen Lutheranern< gelesen. In den Jahren 1732/33 hatte der Salzburger Erzbischof Firmian 22.000 Protestanten aus ihrer Heimat Salzburg vertreiben lassen. Der Flüchtlingstreck  richtete sich nach Norden, um eine neue Bleibe zu finden. 1734 wurde dieser dramatische Exodus literarisch veröffentlicht. Es steht außer Frage, dass Goethe diese Veröffentlichung gekannt und in sich aufbewahrt hat.

Goethe hatte schon 1794 eine Novelle über das Schicksal einer deutschen rechtsrheinischen Adelsfamilie geschrieben, die von ihrem Besitz durch die Revolution in Paris vertrieben worden war. Diese Adelsfamilie wurde auf der Flucht im Chaos  – so Goethes  Novelle – von der Adelsherrin durch feste Regeln zusammen gehalten, um zumindest nach innen eine Ordnung zu halten, an der man erkennen konnte,  wer man sei und was man darstelle. Diese Novelle und einige Reflexionen in >Wilhelm Meisters Lehrjahre< waren  Goethes erster Versuch, sich mit den dramatischen, sozialen Verwerfungen der Französischen Revolution  auseinander zu setzen.

Zu einer intensiven Konfliktlösung, so Goethe in einem Brief an Schiller, hätte ihn die 1795 erschienene Erbauungsgeschichte >Luise< von Johann Heinrich Voss gebracht. Voss war der große Gelehrte, der die klassische Übersetzung der Homer-Epen >Ilias< und >Odyssee< verfasst hatte. Voss war feuriger Anhänger der französischen Aufklärung und Revolution. Mit seiner Luise vertrat er den aufgeklärten Toleranzgedanken, dass die politischen Missstände der Paris-Revolution nur durch eine humane Gesellschaft zu lösen seien.

Hoch motoviert von >Luise<  plante Goethe ein episches Gedicht zu der Frage, wie denn die Pariser Terrorbedrohung gelöst werden könnte. Mit diesem neuen Werk griff er zurück auf die 1734 veröffentlichte Salzburger Fluchtgeschichte  der Lutheraner. Diese alte Geschichte von damals beinhalte schon den gesamten Stoff, den Goethe dann in Hermann und Dorothea dargestellt hat. Er übernahm – nach 60 Jahren – gleichsam ihr ganzes inhaltliches Inventar, nur dass er die von dort übernommenen Möbel  zeitgerecht zu seiner eigenen Geschichte umstellte:

  • Er strich den religiös-konfessionellen Anlass des Salzburger Flüchtlingstrecks und setzte die Französische Revolution als wirklichen Grund der aktuellen Flüchtlingsströme ein.
  • Er verlegte den Handlungsort von Salzburg weg in ein kleines Weimarer Provinzstädtchen.
  • Er besetzte die Liebesgeschichte mit zwei prallen Gestalten: Hermann und Dorothea.
  • Er machte zur wirtschaftlich Grundlage der Handlung das gutbürgerlich-wohlhabende Elternhaus Hermanns und schuf damit eine feste materielle Grundlage für seine Lösung.
  • Er setzte diese Lösung frei von allem institutionellen (kirchlichen oder staatlichen) Druck und vertiefte die Problemlösung so in der individuellen, persönlichen Verantwortung.

Goethes Liebesgeschichte von Hermann und Dorothea ist dennoch (fast) kitschig:

  • Draußen vor den Stadtmauern lagert ein Flüchtlingstreck gleichsam vor dem dunklen Gewitterhorizont der französischen Revolution.
  • Hermann, der Sohn aus gutbürgerlich-wohlhabenden Haus, bringt aus dem Hausbestand der Familie Spendensachen für die Flüchtlinge.
  • Er begegnet dabei Dorothea, einer jungen Flüchtlingsfrau, die arm, aber mit Würde seine Sachen annimmt, um sie weiter zu verteilen.
  • Hermann sieht lange aus sicherer Distanz zu, wie die junge Frau tatkräftig hilft, selbstlos, immer menschlich zugewandt. Je länger er zusieht, desto stärker verliebt er sich in sie.
  • Als er zuhause von der jungen Frau erzählt und seinen Eltern seine Liebe zu ihr gesteht, trifft er auf den harten Widerstand seines Vaters. Der wünscht sich als gesattelter Gasthausbesitzer eine reiche Schwiegertochter für Familie und Sohn.
  • Durch Vermittlung des segensreichen Pastors lässt sich der Vater überreden. Über die junge Frau werden Erkundungen eingeholt. Ihr Leumund ist ohne Tadel. Sie soll sogar die von ihr betreuten Kinder mit der Waffe vor den Franzosen geschützt haben.
  • So wird Dorothea in Hermanns Elternhaus gebeten. Als sie das Haus betritt, denkt sie, dass sie als Magd angestellt würde. Sie scheint dabei zu aller Arbeit bereit.
  • Als Hermann sie stattdessen bittet, seine Frau zu werden, ist sie völlig überrascht und von seiner Liebe überwältigt.
  • Mit ihrer Einwilligung zur Heirat wird das bestehende und das neu werdende Ehe- und Familienglück besiegelt.

Um die Bedeutung dieser Liebesgeschichte ins Exklusive zu heben,

  • setzte Goethe sie in einen literarisch hochwertigen Rahmen: Er schrieb sie in Hexametern, eine klassische Versform, in der Homer seine Ilias und Odyssee geschrieben und Voss sie ins Deutsche übersetzt hatte. In dieser Versform ist sie heute nicht ganz leicht zu lesen.
  • Er formte die beiden Hauptfiguren Hermann und Dorothea nach antikem Idealmuster:
    Hermann wird mit seiner Brautwerbung zu einem klassischen Helden, reif und stark für den Kampf des Lebens, der so mit der Heirat mannhaft die Führung übernimmt. Dorothea, aus sich heraus ein schönes, starkes Weib und keusche Frau, wird durch die  standesgemäße Heirat zur Hausherrin geadelt.

Die Kritik des Kitsches ist im Verlauf der Bewertung in den folgenden 100 Jahren immer mehr ins Positive umgeschlagen durch eine Aufwertung der persönlichen Beziehung zwischen Hermann und Dorothea. Zunehmend wurde darin die >wahre Liebe< entdeckt:

Sie heiraten nicht aus Standeskalkül, nicht aus finanzieller Berechnung, nicht aus  irgendwelchen übergeordneten Idealen oder sonstigen Fremdbestimmungen. Sie entscheiden sich beide spontan für das persönliche Du. Damit durchbrechen sie Normen und Sperren, die damals eine starke Rolle gespielt haben. In dem Maße, wie dieser Durchbruch erkannt wird, setzen sich Kräfte frei, die nachfolgend langsam im kollektiven Bewusstsein zur Wirkung kommen:  Das ich bestimmende Gefühl, der persönliche Selbstwert, das autonome Individuum.

2.2.4.   Goethes Hermann und Dorothea hatte in Deutschland speziell im christlichen  Bürgertum eine sensationelle Wirkung: Das Werk wurde vom Publikum begeistert aufgenommen. So umstritten es literarisch beurteilt war, so wirkungsvoll war seine gesellschaftliche Akzeptanz. Es wurde nahezu von allen gelesen … vom Schneider, von den Näherinnen, von den Mägden. Es wurde Goethes populärstes Buch, noch populärer als sein  >Die Leiden des jungen Werther<.  August W. Schlegel schrieb: … ein vollendetes Kunstwerk im großen Stil, und zugleich fasslich, herzlich, vaterländisch, volksmäßig; ein Buch voll goldner Lehren der Weisheit und Tugend.

Aber nicht nur Goethes Zeitgenossen waren begeistert. Hermann und Dorothea war nachhaltig über 100 Jahre bis weit nach dem 1. Weltkrieg das Standardwerk des deutschen Bürgertums. Es lag oft als einziges Buch >im Buffet in der guten Stube<, gehütet wie ein Schatz. Es hatte in seinem Inhalt und in seiner Wirkungsgeschichte eine doppelte Botschaft:

Erstens:   Die intakte Bürgerfamilie ist die Keimzelle der intakten Bürgergesellschaft und  damit des gesamten Sozialwesens. Der gesellschaftliche Konsens kann nur funktionieren wenn seine Basis, die Bürgerfamilie funktioniert. Nur so können die Grundwerte der Freiheit, der Gleichheit, der Brüderlichkeit einvernehmlich und damit friedlich durchgesetzt werden.

Zweitens:   Die intakte Bürgerfamilie ist Garant der Humanität und damit der sozialen Strukturen des Gemeinwesens. Eine soziale Gemeinschaft kann  nur bestehen, wenn sie von einer gemeinsamen, humanen Basis getragen wird. Insofern können sich Gerechtigkeit, Sitte  und Moral nur im kollektiven Konsens der Gesellschaft entfalten.

 

2.2.5.  Wie wenig sich der humanistische Ansatz Goethes in seinem epischen Gedicht Hermann und Dorothea auf die Wirklichkeit konkret anwenden ließ, zeigt das wirkliche Verbleiben des Flüchtlingstrecks der 1732 aus Salzburg vertriebenen Protestantendenn diesen Treck, über den Goethe geschrieben hat, hat es real wirklich gegeben:

22.000 Andersgläubige mussten mit Sack und Pack, einschließlich Kindern und Alten ihre Heimat verlassen. Ein Teil ging nach Holland, später kam auch ein Teil in die USA in den Staat Georgia. Die meisten Flüchtlinge aber, etwa 17.000, kamen 1733 nach Preußen. Der preußische König Friedrich Wilhelm, der >Soldatenkönig<, hatte an die Salzburger Refugiés ein Einladungspatent erlassen und ihnen die Ansiedlung in Ostpreußen angeboten. Dort sind sehr viele angesiedelt worden, aber auch in anderen Gebieten des Königreiches.

Preußen hat generell viele Flüchtlingsgruppen aufgenommen, 1652 viele Juden, 1730 Flüchtlinge aus Böhmen und alle möglichen Flüchtlinge, die ohne Bleibe durch Deutschland vagabundierten, vertrieben durch die vielen Kriege, Plünderungen, Verfolgungen jeder Art.

Als 1686 die Hugenotten durch die Aufhebung des >Edikts von Nantes< alle ihre Rechte verloren und Frankreich verlassen mussten, hat der große Kurfürst von Berlin mutig das >Potsdamer Edikt< erlassen und die aus Frankreich Vertriebenen eingeladen, sich in Brandenburg anzusiedeln. Sie sollten vor allem nach dem dreißigjährigen Krieg Berlin wieder aufbauen. 20.000 Hugenotten sind so nach Brandenburg übergesiedelt. Da Hugenotten damals schon sehr gebildete Protestanten waren, ging mit ihrer Ansiedelung ein positiver Bildungsschub durch Preußen.

Der Soldatenkönig hat auch oft Soldaten nach Potsdam angeworben, speziell für seine  >Garde der langen Kerls<. So wurden 3500  Grenadieren in Potsdam neu einquartiert. Fast jedes Bürgerhaus musste die Giebelstube für zwei bis sechs Soldaten frei machen. Das war für die Potsdamer schon eine ungeheure Belastung, weil die Untermieter von ihnen auch versorgt werden mussten.

Für die Flüchtlinge und natürlich auch für den Staat war eine solche Massenansiedlung vor allem anfangs sehr schwer. Dennoch haben meist beide Seiten davon profitiert. Preußen war geistig ein sehr offenes, freizügiges Land. Die Einwanderer konnten sich in der Regel frei bewegen. Für den Staat war es immer wieder auf vielen Gebieten – Arbeit, Wirtschaft, Kultur, Bildung, Bevölkerungszuwachs – mit Aufschwung verbunden.

2.2.7.  Betrachten wir auf diesem konkreten historischen Flüchtlingshintergrund Goethes Hermann und Dorothea, dann können wir sicher sagen, dass Goethe vom eigentlichen politischen Flüchtlingsgeschehen, seinen Ausweisungen und Ansiedlungen ganz wenig einbringt. Real bleibt er völlig außen vor. Insofern ist sein episches Gedicht kein Beitrag zur aktuellen Flüchtlingsproblematik.

Hermann und Dorothea führt uns vielmehr ein in die umfassende Frage nach der
Mitverantwortung für das Leben anderer Menschen in Not. Als solches ist es eine
Schärfung  unseres humanen Bewusstseins und sozialen Selbstverständnisses.
Wir finden in ihm dem hohen Kulturanspruch abendländischer Humanität und Menschenwürde.

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Paul Schulz

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