Paul Schulz
Warum ich Atheist geworden bin
Inhalt
(1) Der Text aus VORTRAG: WARUM ICH ATHEIST GEWORDEN BIN
Paul Schulz
Warum ich Atheist geworden bin
0 Einleitung
0.1.
Lieber Gott – wenn es einen gibt,
rette meine Seele – wenn ich eine habe.
In diesem Stoßgebet eines Agnostikers ist die zerreißende Spannung der abendländischen Aufklärung zusammengefasst. Wie in einem Brennpunkt bündeln sich in ihm die drei Hauptelemente der religionskritischen Bewusstwerdung:
0.2.
In der religiös-emotionalen Tiefe
sucht der Mensch seine Existenz auf Gott zu gründen. Unruhig ist mein Herz, bis es Ruhe findet in dir, Gott. So Augustin: Der Mensch, ruhend in Gott und damit in der Gewissheit, dass das wahre Leben des Menschen in einer anderen Welt gegeben ist. Er sucht in Gott die Kraft, mit der er unserer vergänglichen Welt entfliehen kann. In seinem Gottesglauben ist er fest überzeugt, dass er über den Tod hinaus ewig überlebt.
0.3
In seinem kritischen Umbruch
gerät der Mensch in die Irritationen der wachsenden Kritik seiner Vernunft. Es packen ihn Zweifel, ob das, was die Religion ihm verspricht, so überhaupt besteht. Gegenüber allem Metaphysischen entstehen zunehmend Verunsicherungen, Abbrüche, Selbstzweifel, durch die sich ihm Sinngebung und Seelenheil auflösen. Die Skepsis steigert sich bis zur permanent-radikalen Religionskritik unserer Tage.
0.4.
Bei seiner Zielorientierung
sucht er nach einem neuen festen Halt in seinem Leben. Ohne Gott gerät der Mensch unter den Denkdruck, sich selber ganz neu verstehen zu müssen. In seinem Ringen sucht er eine sichere Zielperspektive, sucht innere Sicherheit, ein neues Selbstbewusstsein, in dem er bei sich selber ankommt. Er muss sich selber wagen, sich selbst finden, sich selbst definieren. Nur in sich selber wird er ein eigenständiger Mensch.
0.5.
Lieber Gott – wenn es einen gibt, rette meine Seele – wenn ich eine habe … markiert so die existentielle Betroffenheit des denkenden Menschen, innerhalb seines Bewusstwerdungsprozesses nicht mehr glauben zu können, was er einmal fest geglaubt hat und sich deshalb neu definieren zu müssen. Der Weg von seiner Fremdbestimmung durch Gott zu seiner Selbstbestimmung als autonomer Mensch.
0.6
Als ich diesen Spruch zum ersten Mal in meinem Leben bewusst wahrgenommen habe, etwa vor vierzig Jahren um 1973, da war ich fünfunddreißig Jahre alt. Da war der entscheidende Umbruch in meinem eigenen Leben bereits gelaufen. Meine Rationale Geburt, wie ich diesen Umbruch später genannt habe. Der Umbruch vom religiös bewegten Glauben zum Vernunft gesteuerten Denken.
Heute kann ich mit diesem Satz Lieber Gott, wenn es in einen gibt meinen eigenen Entwicklungsprozess sehr gut analysieren. Ich kann die Grundstationen sichtbar machen als eine völlig logische persönliche Schrittfolge, warum und wieso ich Atheist geworden bin.
0.7.
Ich möchte Sie dabei mit meinem Vortrag ein paar Schritte mitnehmen, um Ihnen aufzuzeigen wie ein Weg in ein Denken und Leben ohne Gott laufen kann – nicht laufen muss. Ich werde dabei von mir selbst erzählen. Wir werden dabei an zentralen Stellen stehen bleiben, um wichtige Gedankenschritte zu reflektieren und generell zu erklären. Wir steuern dabei sieben Stationen an:
- Fundamentale christliche Erziehung
- Theologie-Studium und Promotion in Erlangen
- Pastor an der Hauptkirche St. Jacobi in Hamburg
- Ein Jahr naturwissenschaftliches Praktikum
am Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik in München-Garching - Erster und einziger Ketzerprozess der Evangelisch-lutherischen Kirche
in Deutschland gegen einen amtierenden Pastor - CODEX ATHEOS. DIE KRAFT DES ATHEISMUS.
Ein Sachbuch für ein Denken und Leben ohne Gott - ATHEODOC.COM / ATHEISTISCHE ENZYKLOPÄDIE.
Auf der Suche nach einem Magnus Konsensus der Atheisten.
1. Fundamentale christliche Erziehung
1.1.
Ich bin in einem christlich-orthodoxen Elternhaus aufgewachsen. Mit allem, was man sich unter einem frommen Elternhaus vorstellt. Mit einem Vater, der sich in patriarchalischer Tradition bewusst war, vor Gott Verantwortung zu haben, seine Familie autoritär zu führen, seine Frau, seine Kinder. Von klein auf morgens Gebet vor dem Aufstehen und abends nach dem Zubettgehen. Gebete zu allen Mahlzeiten. Als Heranwachsender Gebete als Kampf unter der Bettdecke, um nicht immer erneut sündig der Masturbation zu erliegen. Die Nacht vor der Konfirmation verzweifeltes Ringen, wenigstens in dieser Nacht rein zu bleiben.
1.2
Die Familie und auch wir Kinder, meine Schwester und ich, waren fest eingebunden in eine vitale Kirchengemeinde, St. Markus, Hamburg-Hoheluft. Jeden Sonntag zum Gottesdienst. Bibelstunden beim Pastor. Mit 14 bekam ich im Kindergottesdienst die Gruppe der fünf bis zehn jährigen Jungen, erzählte und erklärte ihnen Jesus- und andere Bibelgeschichten. Nahezu jeden Sonntag, vier Jahre lang. Ich hätte zu gern Fußball gespielt, war immer schon Sankt-Paulianer. Meine Freunde spielten Sonntagvormittag bei Viktoria oder bei Eimsbüttel. Uns war der Sonntag heilig.
1.3.
Schon früh also war mir meine feste Bindung an die Evangelisch-lutherische Kirche voll bewusst. Seit meinem fünften Lebensjahr, so sagt man, wollte ich Pastor werden. Als ich an der Gelehrtenschule des Johanneums Abitur machte und das Berufsziel abgefragt wurde, war völlig klar, dass ich Pastor werden wollte. Das Theologiestudium als evangelischer Theologe war eine unabdingbare Konsequenz.
1.4.
Es begann in Hamburg. Der erste heftige Stoß passierte gleich im ersten Semester. Proseminar im Fach NEUES TESTAMENT bei Professor Goppelt. Wir mussten eine Seminararbeit schreiben: Jesus und der Zöllner. Eine schöne Geschichte. Ich legte mein ganzes Herzblut, die Gewichtigkeit meines Glaubens, voll in die Deutung dieses Textes. Ich war sicher, damit zu überzeugen.
Als ich die Arbeit wiederbekam, stand darunter >4<. Sie sollten sich besser an die wissenschaftlichen Kommentare halten. Ich war empört, ging zu Goppelt. Ich sei Christ, bewusster Christ. Was soll man noch mehr glauben als ich geschrieben hatte. Goppelt war ein distanzierter Lehrer, präzise in seinen Formulierungen. Er sagte: Die Methode der historisch-kritischen Erforschung der Evangelien ist eine exakte Wissenschaft. Sie hat mit Ihrem Glauben überhaupt nichts zu tun. Diese Methode kann jeder ohne Glauben nachvollziehen. Die müssen Sie lernen. Möglichst schnell.
1.5.
Rudolf Bultmanns historisch-kritische Methode habe ich schnell eingesehen. Ohne synoptischen Vergleich ist zu den Evangelien und damit zu der Gestalt Jesus keine kompetente Aussage zu machen. Das ist an konkreten Texten ganz schnell zu beweisen. Wer das nicht begreift, kann zwar subjektiv über Jesus viel reden, aber sachlich-objektiv wenig sagen. Er redet dann wie ein Arzt, der einem eine komplizierte Herzoperation mit all ihren modernen medizinischen Möglichkeiten mit den Methoden von Paracelsus erklären will. Schon das tut weh.
1. Thema: Auferstehung Jesu
1.6.
Unmittelbar auf diesen ersten Stoß erfolgte dann der entscheidende zweite. Ich las von Herbert Braun, einem radikalen Schüler Rudolf Bultmanns, als Zitat: Jesu Gebeine modern heute noch in Massengräben. Dieser dramatische Satz stammte nicht von einem wild gewordenen Religionskritiker, sondern von einem renommierten Theologen.
Mit diesem Satz bestritt Herbert Braun prinzipiell das leere Grab zu Ostern und damit die historische Faktizität der Auferstehung Jesu. Dann aber war – und das war die zwingende Konsequenz – die Auferstehung Jesu nichts weiter als ein spekulativer Glaubensakt der Urgemeinde. Dann war der Kern der christlichen Botschaft nicht real wirklich passiert, sondern nur der religiösen Einbildungskraft der ersten Christen entsprungen.
1.7.
Die Theologie Rudolf Bultmanns setzte in ihrer Hermeneutik, in ihrer wissenschaftlichen Auslegung der neutestamentlichen Texte, für den Glauben die Bedeutung der historischen Faktizität außer Kraft. Der christliche Glaube liegt nicht darin, dass Jesu Grab leer war, sondern darin, dass sich der Glaubende existentiell auf die Überzeugung einlässt: Jesus Christus ist auferstanden. Allein im Glauben an Jesus Christus als das ewige Leben manifestiert sich die existentiale Qualität. Hinter diesem Denkansatz stand und steht die Existentialphilosophie von Martin Heidegger, berühmt auch in dem Satz von Paul Tillich: Nur in der Tiefe, in der existentiellen Betroffenheit, liegt Wahrheit.
1.8.
Wahrheit vielleicht, aber bestimmt nicht Wirklichkeit. Von Anfang an stand ich im prinzipiellen Widerstand zu Bultmanns Auferstehungstheorie. Der Mensch in Glaubensbetroffenheit ohne faktischen Bezug versinkt in subjektive Bodenlosigkeit, erliegt zwangsläufig einem absoluten Subjektivismus. Ohne greifbare historische Konturen, ohne konkrete Vergewisserung auf der Basis der Realität, ist jeder Glaube beliebig, strebt contra naturam, gegen die Natur, lappt gegen die Vernunft ins Absurde: Credo q u i a absurdum est. Ich glaube, auch wenn es gegen die Vernunft geht oder gerade weil es gegen die Vernunft geht. Das ist katholischer, aber im letzten auch evangelischer, generell christlicher Dogmengrundsatz.
1.9.
Als ich Hamburg verließ, um an einer anderen Fakultät zu studieren, stand ich unter höchster theologischer Anspannung. Der damalige alte Bischof Witte lud zum Semesterende die Theologiestudenten aus Hamburg zu einem Empfang ein. Bischof Witte war ein uriger Typ, schmauchte immer an seiner Pfeife. Er liebte theologische Streitgespräche – bis spät in die Nacht. Wir stritten über Jesu Auferstehung. Es war d a s Thema. Von den 20 Studenten waren 19 Bultmänner. Ich saß neben Witte und verteidigte die historische Auferstehung. Kommen Sie schnell zurück nach Hamburg, sagte er beim Abschied zu mir. Wir müssen unsere Kirche retten. Ich gehörte seitdem zur Hamburger Hochorthodoxie: Kontra Subjektivismus. Kontra Relativismus. Kontra Pluralismus. Wir kennen diese reaktionäre Geisteshaltung von Papst Benedict XVI.
2. Theologie-Studium und Promotion in Erlangen
2.1.
Von Hamburg weg bin ich an die altehrwürdige Universität Erlangen gegangen – große theologisch-philosophische Tradition: Dort lehrte ein Mann, der Anfang der sechziger Jahre mit seinen Jesus-Büchern Furore machte: Ethelbert Stauffer. Stauffer hatte die Fächer Neues Testament und Judaistik und damit Zeit- und Geistesgeschichte des Judentums der beiden Jahrhunderte vor Jesus Christus.
? Im Fach NEUES TESTAMENT war Stauffers Forschungsschwerpunkt die Gestalt und die Botschaft des Jesus von Nazareth.
? In Fach JUDAISTIK war Stauffer hoch aktuell: Als ich nach Erlangen kam, waren gerade die QUMRAN-Texte, die berühmten Texte vom Toten Meer, veröffentlicht worden. Hebräische Originalhandschriften aus der Zeit 160 Jahre vor Christus. Eine absolute Sensation. Diese Texte gehörten zu einer Klostergemeinde am Jordan. Nach ersten Einschätzungen gab es viele Parallelen zwischen der späteren frühchristlichen Gemeinde und der Qumran-Gemeinde. Im Mittelpunkt in Qumran stand ein Mann, der Lehrer der Gerechtigkeit, der offenbar eine ähnlich imposante Gestalt war wie später Jesus von Nazareth.
2.2.
Stauffer erregte damals spontan großes Aufsehen: Er schrieb in der damals hoch angesehenen Zeitschrift KRISTALL als erster Theologe überhaupt eine populäre Artikelserie JESUS VON NAZARETH. Sechs Folgen jeweils über zwanzig Seiten mit brillant geschriebenen Berichten und mit einer üppigen Fülle faszinierender Bilder aus Israels Landschaft und Geschichte, auch aus Qumran, aus der römische Kaisergeschichte und generell aus der europäischen Kunst- und Bildergeschichte.
2.3.
Stauffers wissenschaftliche Prämisse in der Jesusforschung lag in einer scharfen Trennung zwischen
einerseits | andererseits | ||
? Jesus von Nazareth, der vor dem Kreuzestod in Galiläa gelebt hat |
? Jesus Christus, der nach dem Kreuzestod in den Himmel auferstanden ist |
||
? Jesus von Nazareth, der selbst gepredigt und verkündigt hat: die verba ipsissima, Jesu ureigene Worte |
? Jesus Christus, der von den ersten Christen gepredigt und verkündigt worden ist: das Evangelium, die frohe Botschaft vor allem des Paulus |
||
? Jesus von Nazareth, der historische Jesus, der Mensch |
? Jesus Christus, der geglaubt-spekulative Messias, der Gottessohn |
2.4.
Diese Trennung ergab eine glasklare Disposition:
? Sprechen wir von Jesus von Nazareth,
dann sprechen wir ausschließlich von dem historisch Möglichen. Mit Jesus von Nazareth, dem Menschen, ist nur das passiert, was generell historisch möglich, was vernunftgemäß denkbar ist. Der Mensch.
? Sprechen wir von Jesus Christus,
dann sprechen wir von dem historisch Unmöglichen, von dem Metaphysisch-Irrationalen. Was sich als nicht historisch erweisen lässt, mit der Vernunft nicht nachprüfen ist. Der Gottmensch.
Wohin gehört die Auferstehung?
? In die historische Faktizität | ? oder in die religiöse Spekulation? |
2. Thema: Historische Faktizität
2.5.
Die historische Faktizität war und ist ein philosophisches Phänomen des neunzehnten Jahrhunderts. Sie ist eine direkte Parallele zur physikalischen Faktizität, die sich im neunzehnten Jahrhundert mit der Entstehung der neuen mechanistischen Naturwissenschaft erst langsam durchsetzte. Lange Zeit haben beide Wissenschaftsbereiche um den Primat gekämpft, wer für sich die totale Objektivität beanspruchen darf.
Die historische Objektivität wurde von den großen deutschen Historikern Meinecke, Ranke, Mommsen proklamiert: Die einzig wirkliche Objektivität ist die historische Tatsache. Nichts ist so real wie das, was wirklich passiert ist oder auch historisch passieren kann. In spitzester Formulierung hieß das: Es gibt nur eine einzige Tatsachen-Objektivität, das ist die Historie. Allein was wirklich historisch passiert und passieren kann ist reale Wirklichkeit.
2.6.
Daraus entstand der Positivismus, bis heute immer wieder heiß umstritten: Nur was historisch wirklich passiert ist, das ist wirklich real. Nur was sich in Historizität darstellen lässt, existiert wirklich. Der Positivismus ist mit seiner Forschung allein auf das positiv Tatsächliche, auf das real Erfahrbare, das Zweifelsfreie beschränkt. Er definiert das total diesseitig Wirkliche. Die Natur ist real. Der Mensch als Natur ist real: Geburt – Leben – Tod.
Die Kehrseite des Positivismus: Was historisch nicht ist oder nicht historisch werden kann, ist nicht real. Nichts ist unwirklicher als das, was gar nicht passiert ist oder gar nicht passieren kann. Es kann zwar gedacht werden, aber das Gedachte ist nicht real, so lange es nicht historisch konkret wird.
Ohne historische Konkretion ist jedes Denken und Gedachte freie Spekulation, ist Illusion, ist subjektive Kopfwelt. In ihr kann der Mensch beliebig Zeit und Raum überspringen, kann denken, was er will, kann auch allen möglichen Blödsinn für wahr halten. Kontra reale Natur sind religiöse Illusionen, Jenseits- und Gottesglaube, metaphysische Ideenwelten, Vorstellungen von einem Leben nach dem Tod und natürlich alle sonstigen esoterischen Zauberkünste. Nichts davon ist positiv wirklich wirklich.
2.7.
Mein persönlicher Umbruch, meine Rationale Geburt, von der ich schon gesprochen habe, ereignete sich in einem nur kurzen Augenblick. Er war in Kilometern oder gar in Schritten zu messen: Ein Spaziergang von Erlangen-City ins Hügelige – Richtung Ebersbach, immer bergauf. Auf diesem Weg entschied sich mir letztgültig die Beurteilung der Auferstehung Jesu:
? Wenn nur wirklich real ist, was historisch passiert ist oder passieren kann, dann war die Auferstehung Jesu nicht wirklich real. Das leere Grab ist für historische Faktizität kein objektiver Beweis. Darüber hinaus gibt es keinen historischen Beweis, dass sie historisch passiert ist oder passieren kann. Aus der Historie ist die Auferstehung Jesu nicht real.
? Dann aber ist die Auferstehung nichts als Spekulation der ersten Christen.
Sie gründet in menschlichem Wunschdenken, in persönlicher Einbildungskraft und Fantasie, in religiösen Mythen und irrealen Dogmen und Bekenntnissätzen der institutionalisierten Glaubensgemeinschaft Kirche. Die Religionswelt insgesamt ist nur eine Kopfwelt der Menschen. Aller christlicher Glaube darin die religiös-theologische Projektion der Christgläubigen.
Diese Vernunfterklärung gilt so lange, bis sie durch einen faktischen Beweis aufgehoben wird. Dieser faktische Beweis kann nur mittels naturwissenschaft-licher Erkenntnis der physikalischen Faktizität erbracht werden – in der letztgültigen Klärung, ob in der diesseitigen Realität ein Reset, ein Neustart vom Tod zum Leben, physikalisch möglich ist. Bis dahin gilt die historische Faktizität.
2.8.
Als diese Entscheidung in mir selber durch war, kehrte ich auf meinem Spaziergang um und lief befreit zurück an die Arbeit. Alle Glaubenszwänge und Glaubenszweifel waren abgeschaltet. Theologie selbst war für mich nur noch reine Vernunftarbeit, Gegenstand säkularer Wissenschaft.
2.9.
Das folgende QUMRAN-Oberseminar bei Stauffer wurde von daher für mich ein völlig neuer theologiewissenschaftlicher Anfang. Unter rein realwissenschaftlicher Prämisse schrieb ich dort meine nächste Seminararbeit. Seinen Herren Schriftgelehrten, wie Stauffer den kleinen Kreis der Teilnehmer seines Oberseminars gerne nannte, gab er die Semesterarbeit in Einzelgesprächen zurück, sehr persönlich in seinem Arbeitszimmer. Natürlich ein spannender Augenblick. Er übergab mir meine Seminararbeit mit einer sehr guten Note.
Dann sagte er: Schreiben Sie bei mir eine Doktorarbeit. Ich habe ein großartiges Thema für Sie. Schreiben Sie über: Der Autoritätsanspruch des Lehrers der Gerechtigkeit in Qumran und der Geltungsanspruch des Jesus von Nazareth.
Das war für mich ein sensationelles Thema: Es beinhaltete zwei völlig eigenständige historische Gestalten, den Lehrer der Gerechtigkeit und Jesus von Nazareth, die beide unter denselben erkenntnistheoretischen Bedingungen gegeneinander gesetzt werden mussten. Bei beidem musste dieselbe historisch-kritische Forschungsmethode angewendet werden. Historische Wissenschaft pur.
2.10.
Kurz vor meinem Hamburger Examen, am 2. Januar 1965, bekam ich morgens früh ein Telegramm von Stauffer: Habe für Sie eins von vier Stipendien zur Förderung wissenschaftlichen Nachwuchs, direkt von Franz Joseph Strauß. Hoch dotiert. Für ein Jahr. Sie müssen allerdings sofort zusagen und kommen.
Wir waren jung verheiratet. Meine Frau war voll im Schuldienst. Wir hatten noch keine Kinder. Die Entscheidung fiel schnell: Karriere ist Karriere. Also machen. Drei Tage später saß ich in Erlangen in der Seminar-Bibliothek für Jesusforschung und Judaistik – und von da an harte zwölf Monate lang. Es gab noch keine Handys. Ferngespräche waren teuer, nur nachts etwas billiger. Endlose Brief hin und her. Sonntagmittag im Silbernen Panzer fränkischer Schweinebraten mit Klößen. Das einzige Highlight der Woche.
2.11.
Zum Ende des Jahres, am 21. Dezember 1965, abends um 20.00 Uhr hatte Stauffer in seinen Privatgemächern den entscheidenden Termin angesetzt: Der Doktorand Paul Schulz hatte dem Doktorandenseminar seine Forschungsergebnisse zu präsentieren. Vierzehn junge Doktores und Doktoranden, zur Feier des Tages alle stilvoll in schwarzen Anzügen. Man hat Sie fast jeden Tag am großen Fenster der Bibliothek sitzen sehen, sagte Stauffer, oft bis spät nach Mitternacht. Jetzt sind wir alle sehr gespannt, was Sie uns vorzutragen haben.
Also trug ich vor. Als ich meinen Vortrag abgeschlossen hatte, kurze Bedenkpause. Kein Beifall. Dann brach ein Gewitter über mich herein. Die jungen Kollegen fielen über meine Arbeit her, ließen daran kein gutes Haar. Eine Katastrophe.
3. Thema: Induktive oder deduktive Wissenschaftsmethode
2.12.
? Ich hätte – so die Hauptkritik – deduktiv gearbeitet. Ich hätte schon von vornherein ein festes Ergebnis gehabt und alle Einzeltexte in ihrer spezifischen Aussage meinem persönlichen Vorausergebnis unterstellt. So sei nichts anderes herausgekommen als das, was von mir vorher hypothetisch als Ergebnis vorgegeben war, ja, was ich als Ergebnis rausbekommen wollte. Dieser Ansatz sei subjektiv und damit völlig unwissenschaftlich.
? Objektive wissenschaftliche Arbeit, auch die theologische, sei anders, sei induktiv. Man müsse aus dem Einzelnen heraus zum Allgemeinen denken, direkt vom Text zur Theorie schlussfolgern. Nur so gäbe es Annäherung an Objektivität. Objektivität bedeute dann, dass jeder die Erkenntnis nicht über die Subjektivität der Person, sondern direkt über die Sache selbst nachvollziehen könnte.
2.13.
Das war ein technischer K.o. in der ersten Runde. Kurzes Privatgespräch hinterher. Stauffer sehr distanziert. Ich hätte ja gehört, was die jungen Kollegen eben gesagt hätten. Mein Wissenschaftsansatz sei falsch und damit inakzeptabel. Er hätte dem nichts hinzuzufügen. Damit stand er auf. Letzter Abschied. Er brachte mich zur Tür. Da blieb er stehen. Ihr erarbeitetes Material im Einzelnen ist gut, sagte er, sehr gut. Fahren Sie nach Hamburg. Schlafen Sie eine Nacht ordentlich aus. Dann setzen Sie sich ran und entwickeln Sie aus der Substanz heraus ein sachbedingtes Ergebnis. Sie wissen jetzt, wo es langgehen muss. Ich gebe Ihnen genau drei Wochen Zeit. Poststempel 17.1.1966.
2.14.
Am nächsten Abend kam ich zuhause an. Ich war in allem völlig zerstört, in meinem Selbstbewusstsein, in meiner Arbeitskraft, in meinem Wollen. Meine Frau, die Familie, all die Freunde, die auf den Heimkehrer aus der Fremde gespannt warteten. Natürlich auch die Konkurrenz, die Neider.
Das Gespräch mit mir führte meine junge Frau. Ist es möglich? Traust Du Dir das zu? fragte sie. Was, fragte ich, traue ich mir zu? Du hast gestern Abend gesagt, er hätte Dir die Chance gegeben, Dein ganzes Material in ein neues Konzept zu bringen? Schaffst Du das? In meinem Schock hatte ich das völlig verschüttet. Wirklich weitermachen? Ich habe allen abgesagt, sagte meine Frau, Deinen Eltern und der ganzen Familie. Allen Freunden. Kein Weihnachten, kein Silvester. Keiner kommt. Wir müssen nirgends hin. Alle wollen, dass Du es schaffst. Ich halte dich von allem frei. Du kannst völlig ungestört arbeiten.
Am nächsten Morgen saß ich um 7 Uhr am Schreibtisch. Mit der Schere schnitt ich die Seiten der Arbeit auseinander und ordnete die einzelnen Textanalysen immer wieder unter neuen Gesichtspunkten wie ein Puzzle zusammen. Alles wurde dadurch anders. So entstanden neue Schluss-
folgerungen, aus denen heraus sich zunächst induktive Teilergebnisse ergaben und schließlich Schritt für Schritt ein ganzheitliches Ergebnis.
Am letzten Abend spät letzte Korrekturen. Dann los zum Hühnerposten am Hauptbahnhof. Die Post da nahm Briefe noch bis 24 Uhr mit Tagesstempel an. Als wir dort ankamen, war es zehn Minuten nach Mitternacht. Es hatte heftig geschneit, und wir waren nicht durchgekommen. Nichts geht mehr, sagte der Beamte am Schalter. Wir haben ihn angefleht. Schließlich holte er den Stempel noch mal raus und drehte ihn zurück auf 17. 01 1966, 23 Uhr. Zwei Tage später erhielt ich ein Telegramm von Stauffer mit einem einzigen Satz. So wird´s ein summa cum laude. Stauffer.
2.15.
Der Erfolg der Arbeit, das war das Eine.
Der geistige Lernprozess, das war das Andere, der harte Druck zur Veränderung. Dieser Erkenntnis- und Bewusstwerdungsprozess hat mein ganzes Leben zumindest in zwei elementaren Ergebnissen geprägt:
Zum einen erkenntniswissenschaftlich:
Jede deduktive, subjektiv von oben gesetzte Behauptung, Aussage, Meinung, ist mir zutiefst suspekt, nicht nur religiöser, auch religionskritischer, gar atheistischer Art. Meine Texte von unten haben oft einen längeren Anlauf. Der Denkweg Schritt für Schritt erscheint mir viel wichtiger als ein kurzatmig behauptetes Ergebnis.
Zum anderen existentiell:
Ich habe mich mit Jesus von Nazareth oft dramatisch gestritten. Gerade weil ich mich mit seinen Texten im Einzelnen und mit seiner Botschaft insgesamt derart intensiv beschäftigt habe, bin ich als politischer Mensch zu ihm ins Kontra geraten, bin mehrmals einfach weggegangen – für immer. Immer wieder bin ich zurückgekommen, weil mich die Tiefe seiner Menschlichkeit bis in die letzte Konsequenz fasziniert und zurückgeholt hat. In diesem Sinne bin ich – von Mensch zu Mensch – immer noch überzeugter Jesuaner.
3. Pastor an der Hauptkirche St. Jacobi in Hamburg
3.1.
Nach meinem theologischen Abschlussexamen bekam ich ein Angebot als Dozent nach Breklum an eine Art höhere Fachschule für junge Frauen und Männer, die als Gemeindehelferinnen bzw. Diakone in den kirchlichen Dienst treten wollten. Sie erhielten in Breklum eine theologische Grundausbildung.
Meine Lehrtätigkeit dort war auch stundenmäßig sehr intensiv: Neues Testament. Systematik. Ethik. Es lief von Anfang an sehr kontrovers. Das alte Kollegium war missionarisch konservativ. Ich musste meine Theologie dagegen stellen und ständig verteidigen. Wie im Pendelschlag rollten die Argumente von der einen Seite zur anderen Seite und wieder zurück. So erlebten die jungen Damen und Herren die 68er-Tage als spannenden Theologiekampf.
Entscheidend aber war in Breklum gar nicht so sehr das Theologische, sondern im Fach Systematik etwas ganz Neues. Erschienen war gerade Karl Steinbuchs Buch FALSCH PROGRAMMIERT. Steinbuch entwickelte in ihm die Grundstruktur der KYBERNETIK als logisches Ordnungsprinzip automatisierter Funktionen und Prozesse. Aus der KYBERNETIK heraus entwickelte er als Erster einen Vergleich zwischen einem Computerautomaten und dem menschlichen Gehirn. Das Gehirn – nichts weiter als ein digitaler Automat?
Mit einem Schlag stand das ganze System des traditionellen christlichen Menschenbildes zur Disposition. Hatte Darwin mit der Evolution den Menschen als Geschöpf Gottes in Frage gestellt, so setzte der Computerautomat die Vorstellung vom exklusiven Geist des Menschen und damit seine Ebenbildlichkeit Gottes außer Kraft. Als ich dieses Problem in meinen Seminaren thematisierte, drohte der ganze Breklumer Lehrbetrieb auseinander zu fliegen.
3.2.
Glücklicherweise war mein Breklum-Engagement auf nur zwei Jahre begrenzt. So kam ich da heil raus. Ich wurde danach noch ein Jahr Studentenpfarrer an der Uni Hamburg, weil die Stelle, auf die ich berufen worden war, erst noch frei wurde. Die Studentengemeinde stand 1969 unter Alarm. Die politische Szene war da voll aktiv und die Kollegen damit schwer beschäftigt. Heiße Zeiten.
Ich selber eröffnete im Stile eines STUDIUM GENERALE einen Studienkreis KYBERNETIK UND MENSCHENBILD. Dieser Studienkreis war sofort überlaufen, so dass ich ihn verdoppeln musste. Studierende aus vielen Fachbereichen interessierte dieses Thema. Juristen, Physiker, Mediziner, Pädagogen, Kunststudenten, Soziologen, Psychologen nahmen teil, jeweils mit eigenem Fachwissen und aus speziellem Fachinteresse. Ein großartiges Arbeitsforum für einen Theologen: Moderne junge Menschen.
3.3.
Für mich als Theologe war das der erste Einstieg in konkretes naturwissen-
schaftliches Denken. Ich hatte fast ein Jahr Zeit, mich voll in dieses Fachgebiet einzuarbeiten, zu Themen wie Binäres System, Blackbox, input-output, Regelkreise bis hin zum 2. Hauptsatz der Thermophysik. Es war mein erster Vorstoß in die physikalische Faktizität.
3.4.
Als ich am Ende dieses Jahres das Rigorosum als Abschluss für den theologischen Doktortitel machte, da hatte ich als erstes Prüfungsfach natürlich NEUES TESTAMENT. Als zweites Fach habe ich KYBERNETIK angegeben. Das war schon todesmutig und kurios zugleich: Inmitten eines exklusiven theologischen Prüfungsgremiums prüfte mich der Informatikprofessor Dr. Klaus über Information, Entropie, Redundanz.
Keiner der Theologen verstand Sache und Sinn. Ich selbst war nicht glänzend. Zugegeben. Aber ich habe das durchaus positiv durchgestanden.
3.5.
Zurück nach Hamburg hatte mich Senior Dr. Dr. Paul Seiffert von der Hauptkirche St. Jacobi geholt. Senior war damals in Hamburg ein besonderer Titel im Range des stellvertretenden Bischofs. Dr. Seiffert hatte dieses Amt erst seit kurzem übernommen. Er hatte aus Düsseldorf eine faszinierende Idee mitgebracht. Er wollte die Hauptkirche St. Jacobi mit einem jungen dynamischen Theologen zusammen zum Mittelpunkt polarer Theologie zwischen traditionell und modern machen. Bei seiner Suche nach einem jungen Partner stieß er auf mich. In langen Vorgesprächen sahen wir beide in unserer Zusammenarbeit eine große kirchliche Chance. So wurde ich Pastor an der Hauptkirche St. Jacobi.
3.6.
Zu meiner Arbeit an St. Jacobi drei kurze Beispiele:
? PREDIGER IM DIALOG. Gleich für den Anfang hatten wir diese tolle Idee: Beide Pastoren predigten nacheinander im Wechsel über dasselbe Thema, der eine aus traditionellem Ansatz, der andere aus modernem Ansatz. Seiffert war traditionell Schleiermacher-Schüler, hatte über ihn promoviert. Unser Thema war sofort klar: JESUS VON NAZARETH – in drei Wechseln, so dass jeder auf das Vorausgegangene eingehen konnte oder gar musste. Die Gemeinde war über den offenen Denkprozess ihrer beiden Prediger begeistert.
? KRITISCHE GOTTESDIENSTE. Ein neuer Gottesdienstevent, der von mir völlig neu entwickelt und eingeführte wurde und Herrn Dr: Senior schon gar nicht mehr so gut gefiel:
-
- KRITISCHER GOTTESDIENST
einmal im Monat am Mittwochabend von 20 Uhr mit open end - Statt Arp-Schnittger-Orgel: Hamburgs beste Jazzbands
- Statt frommer Liturgie: An drei Stellen eingestreute kurze meditative Texte
- Statt Predigt: Streitgespräch von vier bis fünf Fachleuten
- Statt Bibelthema: Aktuelle Sozial- und Gesellschaftsthemen:
zum Beispiel Drogenkonsum, Paragraph 218, Heimkarriere jeweils immer
mit konkret Betroffenen. - Riesenresonanz – mit bis zu 1000 Besuchern pro Abend.
- Anbindung immer neuer Interessentengruppen an die Gemeinde:
Gründung von Aktionsgruppen,
zum Beispiel nach einem KRITISCHEN GOTTESDIENST mit Betroffenen
Gründung der ersten drogentherapeutischen Wohngemeinschaft in
Hamburg mit 14 Drogenabhängigen und einem festen Therapeutenteam
unter der Gesamtverantwortung von Pastor Schulz.
- KRITISCHER GOTTESDIENST
? KYBERNETIKON. Auch diese Veranstaltung von mir stieß auf fast schon heftigen Widerstand: Im Hauptschiff der Kirche veranstaltete ich eine Woche lang eine Vortragsreihe zum Thema KYBERNETIK UND MENSCHENBILD mit den großen Namen Karl Steinbuch, Hoimar von Dithfurth bis hin zu Felix von Cube mit jeweils Forschungsperspektiven aus ihrem Fachbereich.
3.7.
Zum Abschluss dieses KYBERNETIKONS hielt ich am Sonntag zusammenfassend eine folgenschwere KYBERNETIKON-Predigt mit drei Thesen:
- Immer schon hätte das Weltbild das Gottesbild verändert. Ein neues
Weltbild bedingt ein neues Gottesbild, auch schon in der Bibel selbst. - Das Gottesbild in der Bibel und damit das der Kirche ist in sich nicht absolut.
Die Vorstellungen von Gott in der Bibel und in der Kirche sind deshalb heute
nicht unumstößlich, ganz im Gegenteil. - Angesichts der radikalen Veränderungen des naturwissenschaftlichen
Weltbildes heute müsse unser Gottesbild verändert werden, gerade
um die Konstante Gott als Axiom durchhalten zu können.
3.8.
Mit diesen Aktionen kam die Hauptkirche St. Jacobi schnell in den Blickpunkt. Es meldete sich eine junge Journalistin Karin von Behr von der Zeitung DIE WELT. Sie hatte den Auftrag, mit mir über die neue St. Jacobi-Kirche ein Interview zu machen. Daraus wurden zwei ganze Seiten. In ihnen stand als Zitat: Nachdem ich meiner Gemeinde in meiner Predigt erklärt habe, dass es Gott so nicht gibt, wie die Bibel und die Kirche es darstellen… Dieser Dreiviertelsatz in DIE WELT in Bezug auf meine Kybernetikon-Predigt hat damals den ganzen Konflikt zwischen mir und der Kirche bis heute ausgelöst.
3.9.
Kurz darauf an einem Sonnabend bekam ich morgens früh einen Telefonanruf aus Mallorca. Wir saßen gerade gemütlich beim Frühstück. Ob ich schon die BILDZEITUNG gelesen hätte. Nein, sagte ich, warum? Die lese ich prinzipiell nicht. Tun Sie mal, sagte die Telefonstimme leicht ironisch. Ich rüber zum Kiosk. Erste Seite mit großem Portrait mit Halskrause und riesigem Titel: Hamburger Pastor glaubt nicht an Gott. Und etwas kleiner: Er predigt seiner Gemeinde: Gott gibt es nicht. Darf dieser Mann Pastor sein?
4. Thema: Die Gottesfrage
3.10.
Von diesem Morgen an war alles ganz anders in meinem Leben. Als wir vom Frühstück aufstanden, war meine geistliche Beschaulichkeit für immer aufgehoben. Es gab mich nur noch in theologischer Kontroverse.
3.11.
Senior Seiffert zog als erster die Frontlinien. In unserer neuesten Reihe PREDIGER IM DIALOG griff er mich scharf an: Er bemängelte mein Abweichen von den alten Glaubensregeln, in denen die Gemeinde fest stehen würde. Ich konterte in meiner Gegenpredigt mit dem Satz: Wir spielen Trumpf. Herr Senior! Fraglos eine Kampfansage mit Blick auf meine neuen Gemeindemitglieder, die in großer Zahl ohne diese Glaubensregeln neu in die Kirche kamen.
3.12.
Der Hamburger Bischof Wölber verlangte von mir öffentlich eine sofortige Klarstellung meines Zeitungsinterviews. Er erklärte, meine Aussagen zu Gott, Bibel und Kirche seien für die Kirche völlig unannehmbar. Nur eine eindeutige Klarstellung im Sinne eines Widerrufes könne mir helfen.
3.13.
Dafür bot sich mir eine großartige Gelegenheit: Sieben junge Flensburger Pastoren hatten sich mit meinen Gott-Thesen solidarisiert. Bewegung auch in der Kirche Schleswig-Holsteins. Ihr Bischof Petersen reagierte schnell. Er berief die ERSTE GEISTLICHE SYNODE, eine theologische Versammlung von Pastoren und Laiensynodalen, auf der das einzige Thema GOTT war. Ein total volles Haus. Morgens zur Einleitung hielt ich meinen Hauptvortrag STREIT UM GOTT und formulierte darin meine von Wölber angeforderte Antwort. Zwölf Stunden heiße Diskussionen über die Gottesfrage. Bischof Petersen hatte die Synode ziemlich euphorisch eröffnet. Sein Schlusswort war eher kritisch zurückhaltend, als zöge er die Handbremse an. Er ahnte wohl mögliche Folgen.
3.14.
Dagegen gab Bischof Wölber in Hamburg Gas! Gleichsam auf Rufweite von der Bischofskirche St. Nikolai zur Hauptkirche St. Jacobi hielt er seine angekündigte programmatische Predigt: Gott gibt es. In ihr formulierte er in alter Frömmigkeit Gott als Schöpfer und den Menschen als Geschöpf Gottes – ungeachtet aller naturwissenschaftlichen Fragestellungen und im radikalen Kontra zu meinem theologischen Neuansatz.
3.15.
Es gab für mich nicht wirklich ein Zurück, weder persönlich noch öffentlich. Viele Menschen, zum Mitdenken aufgefordert, fühlten sich befreit zum Mitreden. Nur ein Beispiel: Der Bankdirektor am Burchardplatz gegenüber von St. Jacobi lud sonntags VIP-Kunden zum Gottesdienst in St. Jacobi ein, um die Schulz-Predigten zu hören und fuhr dann mit seinen Gästen nach Blankenese zum Essen, um über die Predigt zu diskutieren. Immer mehr Menschen interessierten sich für eine befreite und befreiende Theologie.
Infolge dieses offenen Redens über Gott entwickelte sich für mich eine Eigendynamik, durch die ich in einen unglaublichen Denkdruck geriet. Ich konnte gar nicht anders als offen mit den Menschen zu sprechen, sonst hätte ich jegliche Glaubwürdigkeit verloren. Ein ängstliches Zurück wäre für viele Menschen ein Vertrauensbruch gewesen. Von daher blieb mir – gerade auch gegen Wölber – nur ein offenes Vorangehen in eine neue Gottesvorstellung.
3.16
Von da an waberte das Gerücht durch Hamburgs Amtskirche, dass ein Lehrbeanstandungsverfahren gegen Schulz in Gang gesetzt würde. Die BILDZEITUNG sprach sofort von einem Ketzerprozess und von Ketzerpastor Schulz. Zwei Hauptpastoren führten mit mir mehrere brüderliche Gespräche. Noch kein Prozess, eher ein Sühnetermin. Sie bewerteten anschließend unsere Gespräche positiv: Viele Menschen würden vielleicht mit Schulz den Weg in die Kirche zurückfinden.
Dennoch kündigte die Amtskirche ein Lehrzuchtverfahren an gegen den ARCHIDIAKONOS VON ST. JACOBI, so mein altehrwürdiger Titel, den ich gegenwartsbezogen bewusst nie benutzt habe.
4. Ein Jahr naturwissenschaftliches Praktikum
am Max-Planck-Institut für extraterrestrische Physik
in München-Garching
4.1.
In dieser Situation hat der Beklagte gemäß dem Lehrbeanstandungsverfahren das Recht auf eine Auszeit, auf ein Studienjahr zur Überprüfung seiner theologischen Position im Blick auf eine mögliche Anklage. Die Kirchenleitung bot mir dieses Studienjahr an. Ich habe dem zugestimmt. Eine andere Wahl blieb mir nicht. Trotz riesigen Protestes mit Unterschriftensammlung wurde ich von der Gemeindearbeit an St. Jacobi suspendiert mit der Auflage, dort nicht mehr predigen zu dürfen.
4.2.
Was war für mich der sinnvoll nächste Schritt? Wie konnte ich mich inhaltlich weiterführen? Die Antwort war schnell gefunden:
– Mit Jesus von Nazareth war es um die historische Faktizität gegangen.
Die historische Faktizität hatte den Rahmen abgesteckt, in dem die Wirklichkeit für die menschliche Wahrnehmung als real verifizierbar ist.
– Mit der Gottesfrage ging es jetzt um die universale physikalische Faktizität. Materielles Dasein, die Natur, und die Ganzheitlichkeit des Seins. Die Frage nach Gott lotete dabei die Wirklichkeit aus in ihrer physikalischen Beschaffenheit und in ihrer ontologischen Gesamtheit.
4.3.
Ich bewarb mich in München-Garching am MAX-PLANCK-INSTITUT FÜR EXTRATERRESTRISCHE PHYSIK um ein Praktikum. Die Institutsleitung stimmte dem sofort zu. Sie fand es interessant, in ihrem Haus einen Theologen zu haben, der sich mit ihrer Forschungsarbeit beschäftigen wollte. Sie sagte volle Unterstützung zu. So lebte ich ein Jahr in München, Frau und Kinder in Hamburg. Ich war drei- bis viermal in der Woche in Garching, hatte einen jungen Mentor zur Seite, der mir vieles erklärte und mir Zugang verschaffte zu nahezu allem, was ich hören und sehen wollte.
Garching forschte damals auf dem Gebiet der Plasmaphysik. Das ist ein modernes Teilgebiet der Astrophysik, auf dem die Eigenschaften und das Verhalten von Materie im Zustand des Plasmas, also als elektrisch leitendes Gasgemisch, untersucht werden. Dieses Forschungsgebiet ist ziemlich abstrakt und mathematisch, weil viel mit Modellprojektionen gearbeitet wird.
In solchen abstrakten Modellen lag nicht mein Interesse. Für mich entscheidend wichtig war, die empirische Denkmethode zu erfassen. Zum Bespiel die Offenheit, eine Hypothese zu falsifizieren und andere Denkwege zu versuchen, wenn die Hypothese sich im Modellversuch als nicht evident erwies. Die naturwissenschaft- liche Erkenntnis funktioniert anders als die theologische. Sie ist nicht hinten festgebunden an dogmatischen Prämissen. Sie ist in der Erkenntnis der physikalischen Faktizität offen nach vorn und ereignet sich in einem vielschichtigen Forschungsprozess.
4.4.
Zum Ende meines Praktikumsjahres fragte mich die Institutsleitung, ob ich Lust hätte, dem Institut vorzuführen, was ich in diesem Jahr Garching zwischen Theologie und Naturwissenschaft erarbeitet hätte. Das würde sicher auf großes Interesse stoßen. Wir seien schließlich im katholischen Bayern. So verabredeten wir einen Vortrag, Freitagabend 19 Uhr. Ich wurde sehr freundlich angekündigt. Nahezu alle kamen, Professoren und Assistenten, die Verwaltung, sogar vom Reinigungspersonal waren sie da.
5. Thema: Physikalische Faktizität.
5. Thema: Ist Gott eine mathematische Formel?
4.5.
Die Disposition zur Gottesfrage hatte ich aus St. Jacobi nach Garching mitgebracht:
? Die Konstante Gott:
Sie markiert die Grundlage, das Axiom der Theologie. Damals war ich noch nicht letztgültig Atheist.
? Die primäre Variable: Das Weltbild
Das Weltbild bestimmt das Gottesbild. Verändert sich das Weltbild, muss sich das Gottesbild verändern.
? Die sekundäre Variable: Das Gottesbild
Angesichts der dramatischen Veränderungen durch die Quantenphysik und damit des modernen Weltbildes muss das Gottesbild verändert werden, wenn nicht das glaubwürdige Reden von der Konstanten Gott verloren gehen soll.
4.6.
In Garching ging es mir darum, an einer Quelle naturwissenschaftlicher Erforschung der physikalischen Faktizität ein zeitgemäßes Gottesbildes zu wagen. Die Determinanten dafür konnten nur aus der modernen Quantenphysik kommen, die das Weltbild im zwanzigsten Jahrhundert völlig verändert hat. In eben diesem Sinne hatte Werner Heisenberg 1958 seine Einheitliche Theorie der Elementarteilchen veröffentlicht, seine berühmte Weltformel als ein physikalisches Ganzheitsmodell. Ist Gott also eine mathematische Formel? So meine Frage.
4.7.
Natürlich ging es mir in Garching nicht derart um eine mathematische Formel. Wir wissen, dass der große Stephen Hawking auf Isaac Newtons Lehrstuhl für Mathematik in Cambridge seit vierzig Jahren an einer physikalischen Weltformel, an einer GRAND UNIFIED THEORY (GUT) arbeitet. Ich versuchte in Garching, mich diesen Gedanken einer GROSSEN VEREINHEITLICHTEN THEORIE anzunähern, indem ich eine doppelte naturphilosophische Gott-Funktion entwarf, die der physikalischen Faktizität im naturwissenschaftlichen Denken kompatibel ist.
Diese Doppelfunktion lautete:
? Erste Gott-Funktion: Gott ereignet sich im Werden
Gott ist nicht allmächtiger Schöpfer, keine schaffende Urgestalt, keine Person, die handelt und wirkt, sondern: Gott ist das Prinzip der Entwicklung, der Evolution. Überall da, wo sich etwas ereignet, sich etwas bildet und entwickelt, ist Gott die systemimmanente physikalische Wirkungskraft. Gott ist die causa universalis evolutionärer Prozesse.
? Zweite Gott-Funktion: Gott ereignete sich im Lieben
Gott ist kein liebender Vater, keine gnädig zugewandte Gestalt, keine barmherzige Person. Sondern Gott ist das Prinzip Liebe innerhalb der Lebensgemeinschaften. Überall da, wo geliebt wird, wo jemand sich dem anderen gnädig zuwendet, wo sich Barmherzigkeit und positive Hilfe ereignet, da ereignet sich Gott im Lieben. Gott ist die causa humana sozialer Lebenssysteme, ihr ethisches Überlebensprinzip.
4.8.
Diese Ereignisfunktion Gott bewirkt die totale Auflösung aller alten mythischen Gottesbilder aller Religionen und aller dogmatischen Gottvorstellungen aller Theologien als einer wie auch immer zu glaubenden Gott-Person. Sie zerstört vom Prinzip her alles Göttlich-Anthropomorphe, alles Göttlich-Menschgestaltige, alles Metaphysisch-Manifeste, alles Spirituell-Statisch-Vergangene, alles Philosophisch-Parmenidial-Platonische.
4.9.
Darüber hinaus öffnet diese Ereignis-Funktion Gott eine völlig neue Seinsdimension, die Dimension Zukunft: Gott ist nicht hinten in der Vergangenheit, nicht in alten Heiligen Schriften und Dogmen, nicht im Gewesenen und in in Stein gemeißelten Wahrheiten, sondern:
Gott ist vorne, vorne in der Zukunft. Gott ist die Perspektive des immer viel größeren Seins. Das Sein ist immer viel größer als das Dasein. Deshalb gibt es für den Menschen immer noch und immer wieder Möglichkeiten, sein Dasein in die Zukunft zu erweitern, Dinge zu ändern, sich zu verbessern, neu anzufangen. Er kann und muss alle Chancen wahrnehmen, die ihm die Zukunft immer wieder bietet. In ihr kann er Grenzen überschreiten, auf Morgen vertrauen, muss wagen zu leben, muss riskieren und mutig nach vorn gehen in dem großen Spannungsbogen unserer diesseitigen Natur von Geburt, Leben und Tod.
Denn in dieser Zukunft liegt auch mein eigener Tod. Der Tod als etwas ganz Natürliches. Solange ich lebe, ist der Tod nicht da. Wenn der Tod da ist, lebe ich nicht mehr. Der Tod als das endgültige Ende meines Lebens. Der Tod, das ewige Nichts. Also lebe! Es ist Dein Leben jetzt! Deine Zukunft hier! In ihr liegt die Selbstverwirklichung Deines Ichs.
4.10.
Mein Vortrag löste bei meinen naturwissenschaftlichen Zuhörern stürmische Reaktion aus. Irgendwie wollten plötzlich alle mitreden. Natürlich gab es heftige Kritik am Verlust des speziell christlich-bayerischen Gottesbildes, Bestürzung auch über die gar nicht so schnell auszudenkenden existentialen Folgen für die traditionell-christlichen Glaubensinhalte von Gottessohn, Heiliger Geist und Jungfrau Maria. Für Ethik und Moral. Für Sühnetod, Auferstehung und ewiges Leben.
4.11. Dann aber erste Versuche einer Öffnung der Denkhorizonte, Reaktionen von Umsetzung, von Befreiung:
Ein Professor erklärte: Dann könne man ja den gravierenden Unterschied zwischen christlichem Weltbild und modernem physikalischem Weltbild genau definieren:
? Die christliche Theologie und Philosophie beschreibt das Sein als eine ständig wachsende Schöpfung mit letztgültig göttlicher Vollkommenheit. So Hegels Weltgeist, der die Welt in Gang gesetzt hat, sich im Geist des Menschen auf Erden vervollkommnet und sich am Ende in der Vollkommenheit Gottes erfüllt. Der gläubige Christ spricht vom ewigen Leben.
? Dagegen kennt die naturwissenschaftliche Forschung keine Vollkommenheit. Sie spricht dafür in der Evolution vom Prinzip der Komplexität. Die physikalische Komplexität bedeutet den zunehmenden Aufbau von Materie in immer umfangreicheren Ordnungssystemen innerhalb fester Naturgesetzmäßigkeit. In der Herstellung immer neuer Naturordnungen liegt also das Evolutionsprinzip.
Diese Komplexität bedeutet aber ein Werden mit letztendlichem Zusammenbruch des Gewordenen. Also Wiederauflösung aller entstandenen Natur- und Seinsordnungen. Nichts hat dauerhaft, gar ewigen Bestand. Alles vergeht in einer berechenbaren Zeit: Das Ich. Der Mensch generell. Die Erde. Unser Sonnensystem. Mit höchster Wahrscheinlichkeit die gesamte kosmische Evolution durch regressive Energie in schwarzen Löchern. Es gibt keine sich unserer Vernunft darstellbare Welt der endgültigen Vollkommenheit.
4.12
Jemand anderes sagte: Wenn das jeweilige Weltbild die Konstante Gott in immer anderen Gottesbildern definiert, dann sind die biblisch-christlichen Gottesvorstellungen ja auch nur äußert relative, bedingte Vorführungen von dieser Konstanten Gott. Dann müsste man ja diese Konstante mit x bezeichnen, und die unterschiedlichen Gottesbilder aus dem jeweiligen Weltbild als zeitbedingt ableiten können.
4.13.
Ein Dritter sagte: In diesem Sinne wäre heute dann die Naturwissenschaft mit ihrer mathematischen Denkweise die zeitgemäß-legitime Fortsetzung der mythischen Denkweise der Religion und der dogmatischen Denkweise der Theologie mit anderen rationalen Mitteln. Genau an dieser Stelle müsse dann die Naturwissenschaft ganz neu ansetzen, um die Konstante Gott, das Allumfassende zu definieren im Sinne von Heisenbergs WELTFORMEL oder gemäß Hawkings GROSSER VEREINHEITLICHTEN THEORIE.
4.14.
Damit war die Diskussion angekommen auf dem Stand des Deismus der frühen englisch-französischen Aufklärung um 1700, dem Beginn der modernen abendländischen Vernunftbewegung, in der wir heute immer noch stehen: Mit der Abschaffung des christlichen Gottes beginnt die Suche nach der prima causa, besser: nach der causa universalis des Seins, nach dem, – wie es Goethe vortrefflich in FAUST 1 mit dem Satz zusammenfasst – was die Welt im Innersten zusammenhält.
4.15.
In summa:
? Gott als eine jenseitige allmächtige Gestalt in welcher Form auch immer gibt es nicht. Auch nicht alle anderen daraus abgeleiteten religiösen und theologischen Derivate.
? Gerade diese atheistische Position heute auf der Basis der modernen Naturwissenschaften kommt nicht darum herum, ein – um mit Hawking zu sprechen – holistisches Weltbild zu formulieren: ho holos, griechisch – das Ganze, die Gesamtheit. Ein holistisches Weltbild, in dem sich alle physikalische Faktizität, auch des Geistes und des Sozialen, induktiv aus einer causa universalis zusammenfügt.
Der moderne Atheismus muss schärfer auf der Basis der physikalischen Faktizität denken lernen. Nur so kann er gegen den spekulativen Glauben von Religion und Theologie überzeugen und sich durchsetzen.
4.16.
Wir saßen noch bis spät in die Nacht im kleineren Kreis zusammen. Für mich war dieser Abend in der dramatischen Konfrontation mit den versammelten Garchinger Physikern meine schwerste Prüfung, viel schwieriger als mein theologisches Rigorosum. Höchste Prämisse: Bei allen sich öffnenden Fragen immer im offenen Denkprozess bleiben, die Lösungen in der Zukunft suchen.
4.17
Als wir uns schließlich voneinander verabschiedeten, an diesem Abend zum letzten Mal, klopfte mir der Garching-Boss freundlich auf die Schulter und sagte: Gut gemacht, Kollege. Für mich war das an diesem Abend wie ein kleiner naturwissenschaftlicher Ritterschlag.
4.18.
Dieser Garching-Vortrag war nicht nur der Abschluss meines Münchner Physik-Praktikums, sondern bildete zugleich die Grundlage aller meiner weiteren theologie- und philosophiekritischen Arbeiten:
? Im Blick auf das angekündigte Lehrbeanstandungsverfahren überreichte ich der Hamburger Kirchenleitung den Garching-Vortrag in einer erweiterten Fassung als meine Verteidigungsschrift – mit dem programmatischen Titel GOTT IM DENKPROZESS.
Bald danach hörte ich hinter der Hand, dass diese Schrift ein positives Echo bewirke. Dennoch kam es direkt zum Lehrzuchtverfahren. Die Hamburger Kirchenleitung wollte es unter allen Umständen.
? Die Wochenzeitschrift DIE ZEIT druckte in einer Artikelserie über drei ganze Seiten meinen Garching-Vortrag und erntete eine riesige Leserresonanz.
? Der Rowohlt-Verlag veröffentlichte mein Buch IST GOTT EINE MATHEMATISCHE FORMEL? Ein Bestseller, in dem nicht nur der Garching- Vortrag stand, sondern auch andere wichtige Aufsätze aus meiner Jacobizeit. Dieses Buch wurde von der Kirche indiziert als Anklage für das Lehrzuchtverfahren.
4.19.
Als ich aus München-Garching nach Hamburg zurückkam, fühlte ich mich für eine Auseinandersetzung mit der Amtskirche bestens gewappnet.
Bis hierher ist der Vortrag (Kapitel 1 – 4) von mir
auf dem Humanistentag in Hamburg am 2. Mai 2013 vorgetragen worden.
Ich setze hier den Vortrag so fort,
wie er von mir als 2. Teil (Kapitel 5 – 7) konzipiert worden war.
5. Erster und einziger Ketzerprozess
der Evangelisch-lutherischen Kirche in Deutschland
gegen einen amtierenden Pastor
6. Thema: Bekenntniszwang der lutherischen Kirche
5.1.
Das Lehrbeanstandungsverfahren der Vereinigten Evangelisch-lutherischen Kirche in Deutschland (VELKD) gegen mich fand unter dem Vorsitz von Landesbischof Professor Dr. Eduard Lohse in Hannover statt. Er leitete das Spruchkollegium aus sieben berufenen Kirchen-Persönlichkeiten. Es ging um zentrale theologische Fragen: Um Gott. Um Jesus Christus. Um Tod, Auferstehung und ewiges Leben. Um Erkenntnis und Menschenbild. Um Amtskirche und moderne Kirchlichkeit.
Diese Themen wurden ausführlich diskutiert. Dabei lagen die Positionen immer wieder weit auseinander, im Koalitionsfall immer sieben gegen eins. Allerdings waren die Sieben untereinander überhaupt nicht einig, nur immer in der Ablehnung meiner vorgetragenen Meinung, selbst wenn ich rein theologiewissenschaftliche Erkenntnisse vortrug. Alle Versuche aber, Brücken zu schlagen, scheiterten schon im Ansatz. Nie wurde während dieses Prozesses in Hannover um gemeinsame Lösung gerungen, immer wurde stur auseinander dividiert.
5.2.
Es gab in der Prozessführung letztlich immer wieder nur eine einzige Fragemethode: Es ist interessant, was Sie uns erzählen. Aber glauben Sie damit als Pastor an die lutherischen Bekenntnisschriften? Sind Sie konform mit der Wahrheit der Lehre und dem Glauben der lutherischen Kirche?
5.3.
Über weite Strecken hatten die Verhandlungen die Anmutung jener Konfrontation, die Bert Brecht in GALILEO GALILEI beschreibt: Galilei fordert die Prüfungs- kommission auf, sich von der Wirklichkeit doch selbst zu überzeugen. Sie brauchten bloß durch das Fernrohr zu sehen, dann würden sie die neuen Sterne mit eigenen Augen sehen können. Wozu brauchen wir ein Fernrohr, so die Antwort der Dogmatiker an Galilei. Wir haben doch unseren alt ehrwürdigen Aristoteles. Der lehrt uns, was wir über die Wirklichkeit zu glauben haben.
5.4.
Was aber ist das konkret: Die Wahrheit der Lehre und der Glaube der lutherischen Kirche? Nicht nur die katholische Kirche hat Dogmen. Die protestantisch-evangelische Kirche hat genauso verbissen und unantastbar ihre lutherischen Bekenntnisschriften:
? Die CONFESSIO AUGUSTANA aus dem Jahr 1530,
eine von Martin Luther selbst verfasste strenge Glaubensregel
? Die CONFESSIO VARIATA aus dem Jahr 1540,
die von Philipp Melanchthon vorsichtig abgeschwächte Glaubensregel
? Die KONKORDIENFORMEL aus dem Jahr 1577,
die als eine Kompromissformel innerhalb der reformatorischen Streitigkeiten in wesentlichen Punkten ziemlich aufweichende Tendenzen hat.
5.5.
In Hamburg galt und gilt die CONFESSIO AUGUSTANA. In einem ehrwürdigen Folianten haben von alters her fast alle in Hamburg ordinierten Pastoren diese CONFESSIO AUGUSTANA manu et corde – mit Hand und mit Herz unterschrieben. Wir – drei theologische Freunde – haben damals bei der Ordination unsere Unterschrift nur unter Vorbehalt unseres vernünftigen Gewissens geleistet.
5.6.
Dieser Vorbehalt des vernünftigen Gewissens lag erkenntnistheoretisch im theologiekritischen Ansatz von Ludwig Feuerbach. Feuerbach hat in seinem Buch DAS WESEN DES CHRISTENTUMS (1841) in der Analyse vieler einzelner theologischer Loci nachgewiesen, dass alles Reden von Gott Reden des Menschen von und über sich selbst ist.
Deshalb: Homo homini Deus, der Mensch ist dem Menschen Gott. Alles Reden von Gott ist Projektion des Menschen: Wenn der Mensch bekennt, Gott sei für ihn ein liebender Vater, dann legt er allein mit diesem Satz offen, dass er sich das persönlich so vorstellt. Auch in der Bibel haben die Menschen nichts anderes niedergeschrieben als das, was sie sich in ihrem jeweiligen soziokulturellen Rahmen als ihren Gott vorgestellt haben. Nichts anderes sind alle christlichen Dogmen und Bekenntnisse der einzelnen Kirchen und der Kirche insgesamt.
Ludwig Feuerbach ist bis heute unwiderlegt. Die Christen haben gegenüber Feuerbach eine Bringeschuld, nämlich konkret nachzuweisen, dass ihre Bekenntnisaussagen auf die Vergangenheit hin historisch-faktisch waren und auf Zukunft hin physikalisch-faktische Realität sein können. Bis dahin gelten Feuerbachs Definition, dass alle Bekenntnisse und Dogmen der Religion(en) uneingeschränkt nur Ich-Projektionen der menschlichen Kopfwelt sind.
5.7.
Deshalb meine Position zu den Bekenntnisschriften und Glaubenssätzen generell und zu den lutherischen speziell:
Bekenntnisse und Dogmen als Ausdruck menschlichen Selbstverständnisse: Ja. Als menschliche Orientierungshilfe und Richtlinien: Ja. Als Konsensfindung in Gruppen- und Gemeinschaftsbildungen: Ja.
Bekenntnisse und Dogmen als absolute Wahrheit und Wahrheitssätze: Absolut nein! Als unantastbare Wirklichkeitsdefinition : Absolut nein! Als Unterwerfungs -formeln unter den Absolutheitsanspruch einer Amtskirche: Absolut nein!
7. Thema: Für eine neue Kirchlichkeit
5.8.
Schon auf der Kanzel hatte ich wiederholt gefordert, dass die Menschen ihren Verstand auch in theologischen und in Glaubensfragen nicht an der Kirchentür abgeben dürften. Die Kirche brauche eine offene Kirchlichkeit, eine mündige Gemeinde, um Menschen in die Kirche zurück zu holen, die in ihrem Leben nicht mehr mit den alten Dogmen und Bekenntnisschriften zurechtkommen, ja, sie überhaupt gar nicht mehr kennen oder kennen wollen.
5.9.
In meinem Schlussplädoyer habe ich dem Spruchkollegium meine Forderung noch einmal ganz klar vorgehalten:
? 95 Prozent der Pastoren kümmern sich um fünf Prozent der Menschen in unserer Gesellschaft, die traditionell zur Kirche gehen.
? Warum sollen sich nicht fünf Prozent der Pastoren um 95 Prozent der Menschen in unserer Gesellschaft kümmern dürfen, die sich neu der Kirche zuwenden könnten, sich dabei aber nicht mehr traditionell an die alte Kirche binden wollen?
Als geistiger Sachverwalter dieser 95 Prozent habe ich mich als Pastor verstanden,
der alle Kirchentüren aufmacht, die neuen Menschen herzlich begrüßt, mit ihnen offen ohne Glaubensbedingungen über alles spricht und ihnen beim Abschied fröhlich auf Wiedersehen wünscht. Dabei konnte ich selbst auf eine große neue Gemeinde verweisen, die sich in diesem neuen Geist immer neu versammelte.
5.10.
Am 21. Februar 1979 hat das Spruchkollegium seinen Urteilsspruch gefällt:
Pastor Dr. theol. Paul Schulz ist öffentlich durch Wort und Schrift in der Darbietung der christlichen Lehre in entscheidenden Punkten in Widerspruch zum Bekenntnis der Evangelisch-lutherischen Kirche getreten und hält daran beharrlich fest. Er ist mithin nicht mehr fähig, eine amtliche Tätigkeit im kirchlichen Dienst auszuüben.
Damit habe ich alle meine geistlichen Ämter verloren. Darüber hinaus alle materiellen und beamtenrechtlichen Ansprüche, einschließlich der Pension. Mir – und auch meiner Familie – waren diese Konsequenzen von Anfang an bewusst. Doch eins war mir auch klar: Ein Gehalt A13/A14 ist kein Grund, sein Leben unter einen unabdingbaren Glaubenszwang zu stellen.
8. Thema: Wiederaufnahmeverfahren
5.11.
Im Februar 2010 erschien in der FRANKFURTER RUNDSCHAU ein Artikel über den Pastor Hendriksen in der protestantischen Kirche in den Niederlanden. Er hatte sich mit seinen Predigten als Atheist geoutet. Nach langen Verhandlungen hatte ihm seine Gesamtkirchenleitung die Erlaubnis erteilt, weiter als Pastor in seiner Gemeinde arbeiten und von der Kanzel als Atheist predigen zu dürfen. Eine sensationelle Kirchenentscheidung; Der pluralistische Zeitgeist fordere das so.
5.12.
Dieses Urteil hat mich zu dem Entschluss gebracht, eine Wiederaufnahme meines Verfahrens zu beantragen. Es konnte doch nicht sein, dass die protestantische Kirche einen Pastor wegen Glaubensabweichung lebenslang verurteilt und dreißig Jahre später einen anderen Pastor in einem wesentlich verschärfterem Kasus positiv akzeptiert.
Von Anfang habe ich dazu erklärt, dass es mir nicht um Wiedereinstellung als Pastor oder um irgendwelche Geldforderungen ginge, sondern ausschließlich um Rehabilitation meiner theologischen Arbeit in St. Jacobi. Deshalb habe ich eine dezidierte APOLOGIA THEOLOGICA eingereicht, eine neue aktuelle Verteidigungsschrift.
5.13.
Doch in dem fast zwei Jahr lang schwebenden Vorverfahren gab es keine einzige theologische Einlassung von Seiten der Kirche, obwohl ein Bischof als Beauftragter der Kirchenbehörde federführend war. Im Hintergrund arbeitete ein Heer von Kirchenjuristen der lutherischen Amtskirche an einem Schriftsatz, der ein Sonderrecht der Kirche verteidigte: Eine Wiederaufnahme eines Lehrverfahrens ist in der kircheneigenen Gerichtsbarkeit nicht vorgesehen.
Mein Anwalt wurde als mein juristischer Vertreter mit seinen Schriftsätzen von der Kirche nicht zugelassen, weil er kein Kirchenmitglied war. Auf meinen theologischen Widerspruch kam schließlich ein endgültiger Kirchenbeschluss, dessen juristische Begründungen auf Rechtsverordnungen der wilhelminischen Zeit (1911) zurückgriffen, also auf die fetten Zeiten der Kirche von Thron und Altar, als die Kirche noch absoluter Machtfaktor der Monarchie war.
5.14
Dagegen hätten wir zivilrechtlich klagen können, denn die Revision und damit eine Wiederaufnahme ist in unserem Rechtsstaat ein Grundrecht des Rechts-verfahrens. Das hat prinzipiell auch für ein Lehrbeanstandungsverfahren der Kirche zu gelten. Eine derartige Grundsatzklage gegebenenfalls durch mehrere Instanzen hätte jedoch Jahre dauern können. Nach kurzer Bedenkzeit stand für mich fest: Dafür ist mir der Rest meines Lebens zu schade.
5.15.
Nahezu gleichzeitig hat die Bischöfin in Hamburg 24 Kirchen geschlossen und in feierlicher Prozession entwidmet und säkularisiert. Darin zeigt sich auf Zukunft eine zwingende Konsequenz: Wenn sich die Amtskirchen in ihren dogmatischen Grundlagen nicht öffnen und die Menschen geistig freisetzen, verfallen ihre Kirchen Stück für Stück der Liquidation.
6. CODEX ATHEOS. DIE KRAFT DES ATHEISMUS.
Ein Sachbuch für ein Denken und Leben ohne Gott
6.1.
Nach meinem Ausscheiden damals als Pastor aus dem Kirchendienst bin ich aus der Kirche ausgetreten. Einem Verein, der das freie Denken auf seine eigenen Denkkaros beschränkt, will ich nicht angehören – selbst dann nicht, wenn dieser Verein durchaus auch Sinnvolles fabriziert.
Direkt nach meinem Austritt aus der Kirche bin ich beruflich in die freie Wirtschaft abgeworben worden und habe dort im oberen Vertriebsmanagement einer großen Firma in Hamburg gearbeitet.
6.2.
1995 bin ich aus dem Wirtschaftsmanagement ausgestiegen und habe die SENIOREN-AKADEMIE ALSTERTAL E.V. gegründet, ein Weiterbildungsinstitut für Senioren mit einem reichhaltigen Seminarangebot für Philosophie und Theologie, Kunst und Literatur, Geschichte und Gesellschaftspolitik. Dazu (bisher 52) große Kulturereignisreisen durch ganz Europa und Israel.
Die SENIOREN-AKADEMIE besteht unter meiner Leitung fast 20 Jahre als ein völlig unabhängiges Institut, geführt nach rein marktwirtschaftlichen Regeln. Viele ältere Menschen haben in der Akademie in völliger Denkfreiheit und offenem Gedankenaustausch ihre geistige Heimat gefunden, haben sich hier neues Wissen angeeignet, über Sinn und Verantwortung des Lebens nachgedacht, sind mitgereist durch die Kulturzentren Europas und so weltoffener geworden, haben freundschaftliche Kontakte gefunden, sind Gäste des Humanistentags.
9. Thema: CODEX ATHEOS. DIE KRAFT DES ATHEISMUS
Zur Geschichte des Denkens und Lebens ohne Gott
6.3.
Mit der Eröffnung der SENIOREN-AKADEMIE habe ich wieder an theologisch-philosophischen Themen gearbeitet. Zunächst waren es Studien für mich selbst zur Kulturgeschichte des Abendlandes. Daraus hat sich als wissenschaftliches Spezial-gebiet die Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte des Atheismus im Abendland entwickelt. Schnell entstand eine Fülle schärferer historischer Erklärungskonturen.
6.4.
2006 erschien mein neues Buch CODEX ATHEOS. DIE KRAFT DES ATHEISMUS. Mit ihm war der Vorrang der Theologie in meinem Leben endgültig aufgehoben. An seine Stelle trat die Kulturgeschichte des Atheismus im Abendland.
Anders als durch F. Mauthner in seinem Standardwerk DER ATHEISMUS UND SEINE GESCHICHTE IM ABENDLAND (1922) vorgegeben, leite ich den Atheismus ursächlich nicht aus dem späteren Widerspruch gegen die christliche Religion im Abendland ab. Der Atheismus gründet vielmehr in der Aufklärung der altgriechischen Antike. Deren Natur- und Vernunftphilosophie schuf die voranschreitende menschliche Bewusstwerdung der Rationalität ohne Gott.
Thesenartig skizziere ich dazu kurz drei Schwerpunkte des CODEX ATHEOS:
6.5.
Neudefinition Abendland: Die europäische Geistesgeschichte ist in sich nur wertgleich behandelt, wenn sie in drei eigenständige Epochen geteilt wird, in: Das antike Abendland seit -600 mit der Grundlegung der Demokratie durch Solon. Das christliche Abendland seit 380 mit der Gründung der christlichen Staatskirche im Römischen Kaiserreich. Das säkulare Abendland seit 1648 mit dem Westfälischen Frieden und in seiner Folge mit der Entstehung europäischer Nationalstaaten in säkular-demokratischer Verfassung.
Diese dreigliedrige Epochisierung hebt die christliche Zweigliederung mit dem Jahr Null als Zeitenwende auf. Sie zerstört so den absoluten kirchlichen Deutungs-anspruch über die abendländische Geschichte als Wertung vor oder nach Christus. Die Geschichte Europas ohne kirchliche Metastruktur wird somit in den drei gleichteiligen Epochen in sich völlig wertgleich und wertneutral.
Erst dadurch wird voll sichtbar: Das säkulare Abendland musste sich gegen den permanenten Widerstand des Christentums auf allen Gebieten durchsetzen. In den großen historischen Umbrüchen der Scholastik und der Renaissance, der Aufklärung und des Neunzehnten Jahrhunderts sowie unserer Neuzeit heute hat sich im Rückgriff auf die Natur- und Vernunftphilosophie der Antike unsere moderne Welt entwickelt.
6.6.
Trennung von Staat und Kirche: Durch das Vordringen des vorderorientalischen Monotheismus (ex oriente lux!) in die westliche Antike entstand ein Kulturkampf, den die Kirche um 500 mit brutaler Gewalt zunächst für sich entschieden hat.
Der monotheistische Glaube der Juden, der Christen, und später des Islam aber war von Anfang an nicht kompatibel mit der Natur- und Vernunftphilosophie der westlichen Antike. Sie stehen auch in der modernen Welt diametral gegeneinander.
Von daher ist die Trennung von Staat und Kirche, von Staat und Religion über alle Tagespolitik hinaus ein wesensmäßiger Entwicklungsprozess unserer modernen, rationalen Gesellschaft und deshalb auf Zukunft hin unabwendbar.
6.7.
Ethik ohne Gott: Der moderne Staat kann von seinen demokratischen Prinzipien her eine theokratische Begründung seiner selbst nicht anerkennen. Er ist auch in seinen ethischen Wertsetzungen ausschließlich seiner weltlichen Verfassung verpflichtet.
Unser Staat und unsere Gesellschaft sind mit allen Menschen guten Willens dem säkularen Humanismus der europäischen Geistesgeschichte verbunden und damit dem positiv-utilitaristischen Prinzip gemeinschaftlichen und persönlichen Handelns.
Die Menschenrechte der Französischen Nationalversammlung 1791, der UNO 1948 und der EU 2005 sind glänzende Zeugnisse menschlicher Wertesetzung ohne Gott, die alle vergleichbaren religiösen Wertetafeln bei weitem überragen.
7. ATHEODOC.COM / ATHEISTISCHE ENZYKLOPÄDIE.
Auf den Suche nach einem Magnus Konsensus der Atheisten
7.1.
Von diesen Prinzipien her bin ich nicht ohne deutliche Kritik an der säkularen Szene in Deutschland. Das sage ich gerade auch deshalb, weil auf diesem Hamburger Humanistentag viele unter uns sind, die an der Entwicklung des Atheismus in den letzten zehn Jahren ganz wesentlich beteiligt waren. Ihrer aller Bedeutung für den Aufbau der säkularen Szene in Deutschland ist völlig unbestreitbar.
7.2.
Dennoch lautet meine Kritik: Der Atheismus der letzten zehn Jahre hat sich zu sehr auf Kirchen- und Religionskritik fokussiert. Das mag in der ersten Aufbruchphase verständlich gewesen sein und ist auch in Zukunft in konkreten Fällen sicher notwendig. Permanente Religionskritik in generalisierender Form aber als einzige Selbstdarstellung ist heute kein abendfüllendes Thema mehr.
7.3.
Es gilt jetzt vielmehr, die positiven Inhalte des Atheismus voll in den Mittelpunkt aller Aktivitäten zu stellen. Es muss endlich sichtbar werden, dass der moderne Atheismus vor allem eine positive Lebensbefreiung ist: Der Mensch nimmt sich heraus aus aller göttlichen Bevormundung und setzt sich frei zu einem sich selbst bestimmenden und verantwortenden Individuum. Er wird ein autonomer Mensch.
10. Thema: ATHEODOC.COM
Das Internetportal für moderne Aufklärung
7.4.
Er könne sich generell eine Gesellschaft der Atheisten vorstellen. Mit dieser These in seinem DICTIONNAIRE HISTORIQUE ET CRITIQUE (1695-97) hatte Pierre Bayle, der große Aufklärer des Abendlandes um 1700, seine Zeitgenossen erschüttert. Ein entsetzter christlicher Aufschrei: Atheisten!
Von diesem ersten Punkt aus setzte sich der Atheismus der Neuzeit gegen den christlichen Aufschrei in Bewegung: Er bewirkte den Abbau der Vorherrschaft der Kirchen und ihrer Bevormundung der Menschen, die Entstehung der Demokratie und der modernen Naturwissenschaften, die Erklärungen der Menschenrechte, die Entwicklung der Autonomie des Individuums.
7.5.
Trotz all dieser großartigen säkularen Errungenschaften in den letzten dreihundert Jahren stehen wir mit unserm Atheismus in unserer Gesellschaft heute immer noch irgendwie am Anfang. Der Atheismus wird nicht wahrgenommen als der Befreier der Menschen von einer vielschichtigen Diktatur der Hinterwelt.
Uns fehlt der laut hörbare politische Anspruch auf konsequente säkulare Umgestaltung von Staat und Gesellschaft. Uns fehlen die repräsentativen Stellungnahmen und Einmischungen in die Öffentlichkeit der täglichen Ereignisse. Uns fehlen die persönliche Überzeugungskraft und die persönliche Hilfeleistung anderen Menschen gegenüber für ein Denken und Leben ohne Gott
7.6.
In diesem Sinn ist dieser Humanistentag in Hamburg ein erster Schritt nach vorn in die richtige Richtung einer gemeinsamen Präsentation der breiten säkularen Szene von Humanisten, Konfessionsfreien, von politischen, künstlerischen, journalistischen, naturwissenschaftlichen Skeptiker, von weltlichen De- und Pantheisten, Freidenkern, Agnostikern und Atheisten in Deutschland.
Dank allen voran an Konny Neumann, der mit seiner Hamburger STIFTUNG GEISTESFREIHEIT und seinem unermüdlichen Einsatz diesen Humanistentag zustande gebracht hat. Konny Neumann ist die Identitätsgestalt der traditionsreichen Jugendweihe in Hamburg. Mit Hunderten junger Menschen und ihren Angehörigen und Freunden hat er am letzten Sonntag zwei Jugendweihen in der Hamburger Laiszhalle gefeiert und für den 20. Mai ist eine dritte auch schon fast ausgebucht. Konny Neumann ist gerade zum Präsidenten der Jugendweihe Deutschland e.V. gewählt worden. Dir, Konny, herzliche Glückwünsche und alles Gute für Deine neue große Verantwortung.
Dank auch an alle, die neben Konny Neumann am Humanistentag mitgearbeitet haben, auch an die anderen Institutionen in Deutschland, vor allem an die Giordano-Bruno-Stiftung, die in Hamburg durch den starken Einsatz von Kai Pinnow, Thomas Brandenburg und Björn Rump an der Entwicklung und Durchführung wesentlich beteiligt waren und sind.
7.7.
Ein solcher Vorstoß, den gemeinsamen geistigen Zusammenhalt des Atheismus zu stärken, ist die Gründung von ATHEODOC.COM. Zu Pfingsten 2012 auf der IBKA-Tagung in Köln haben wir dieses INTERNETPORTAL FÜR MODERNE AUFKLÄRUNG eröffnet.
Unser großes Vorbild ist Denis Diderot und seine berühmte ENCYCLOPÉDIE
… DES SCIENCES, eine umfassende Darstellung des gesamten neuen Wissensstoffs der damaligen Welt um 1750 – in 40 Folianten. 1751 erschienen die ersten beiden Bände. Schließlich haben daran weit über 100 Autoren mitgearbeitet. Diese ENCYCLOPÉDIE war das Kampfschwert der französischen Aufklärung gegen die Hinterwelt der Traditionalisten welcher politischen und religiösen Couleur auch immer. Sie war mitentscheidend für den Umbruch der alten in unsere moderne Welt.
Auch ATHEODOC ist ein Werk im Werden. Seinr Ziel ist die Entwicklung eines Magnus Konsensus der heutigen Atheisten in Zusammenarbeit mit vielen Autoren.
11. Thema: Atheistische Kirche. Kirche der Vernunft
7.8.
Hätte ich einen Wunsch frei, ich wünschte mir die provokative Gründung:
ATHEISTISCHE KIRCHE IN HAMBURG
KIRCHE DER VERNUNFT
Das klingt im ersten Augenblick dissonant, ist und soll es auch sein im Sinne von Pierre Bayle: Ich könnte mir eine Kirche der Atheisten vorstellen. Das richtet sich gezielt gegen die Kirchen mit ihren immer noch religiösen Deutungsanspruch über unsere säkulare Wirklichkeit. Zugleich aber ist es ein immenses Potenzial für die Aufklärung der säkularen Vernunft in unsere Zeit.
7.9.
Dazu eine dreifache Begründung:
Erstens: Kirche ist ein fester Begriff aus der altgriechischen Antike. ekklesia bedeutete Versammlung und wurde zum Fachbegriff für die Volksversammlung
der attischen Demokratie, von der aus der Staat regiert wurde. Also ein Urbegriff demokratischer Gemeinschaftsverantwortung und individueller Vernunft und Freiheit.
Zweitens: Die Christen haben diesen Begriff ekklesia ganz gezielt für sich usurpiert und mit ihrer religiösen Sinndeutung den alten Sinn und seine Funktionen außer Kraft gesetzt. Mit solchen feindlichen Übernahmen dieses und anderer zentraler Begriffe und Werte haben die Christen letztlich ideenmäßig die antike Vernunftwelt zerstört.
Drittens. Es gilt, die weltliche Bedeutung des Begriffs Kirche aus alter Tradition zurück zu gewinnen und dessen ursprünglichen Sinn der religiös-christlichen Bestimmung demonstrativ entgegen zu setzen. Das allein schon vermittelt den säkularen Eigenwert und stellt den religiösen Absolutheitsanspruch in Frage.
Ziel ist die Durchsetzung der Urheberschaft dieses Begriffes in seiner ursächlichen Bedeutung: Kirche ist keine Gemeinschaft und Raum durch Gott für Gott. Kirche ist eine Gemeinschaft und Raum der Menschen für Menschen. Der Kampf ist auch immer ein Ideenkampf, ein unmissverständliches Zeichen dafür, dass die Vernunft nach fast zweitausendjähriger religiöser Enteignung jetzt ihren Anspruch zurückfordert.
Deshalb:
ATHEISTISCHE KIRCHE IN HAMBURG:
KIRCHE DER VERNUNFT
7.10.
Valeas! Valete! – sagten die alten Lateiner.
Lass es dir, lasst es euch gut gehen!
– hier bei uns im wunderschönen Hamburg.
(2) Der Autor: Paul Schulz
Geboren am 29. August 1937 in Frankfurt / Oder.